Geisterhaus

seltsame, kleine Dinge...

nicht schreiben

Oranges Licht scheint zum Fenster herein, es ersetzt mir den Mond, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Von der Ferne ein Rauschen, so allgegenwärtig, dass ich es kaum mehr wahrnehme. Es ist nicht das Meer, es ist die Autobahn. Es ist Nacht, wie es in der Stadt Nacht ist. Nicht Dunkel, nicht still, aber deshalb noch lange nicht frei von Dämonen.

In meinem Zimmer gibt es an diesem Fenster ein Bett und daneben steht der Schreibtisch. Ein Text muss fertig werden. Seit Tagen verlasse ich das Haus nur, um mir eine Kleinigkeit zu Essen zu besorgen. Drinnen gibt es nur das Bett oder den Schreibtisch.

Und ich wage es nicht, mich an ihn zu setzen. Der Bildschirm beleuchtet grell und anklagend das Zimmer. Eine Datei ist geöffnet, leer, keine Zeile, nichts. „Dokument1“ heißt es immer noch.

Ich möchte den Rechner ausmachen, aber ich kann mir auch nicht eingestehen, dass der Tag wirklich verloren ist. Im Dunkel des Zimmers verborgen liegt meine Vorarbeit. Ordnerweise Literatur, Mindmaps, Kapitelübersichten… Ich weiß genug, ich habe es sinnvoll geordnet, es ist jetzt die Zeit zu schreiben, seit einem Monat schon… es muss längst die Zeit sein… Aber es geht einfach nicht… Nun war es schon unmöglich fertig zu werden…

Ich möchte den Rechner ausmachen, aber ich kann mich nicht rühren. Ich verstehe das Problem nicht. Ich kann es nicht mal richtig beschreiben. Ich weiß nicht weiter.

Irgendwann in der Nacht, müde vom Stress des Stillstandes, trete ich doch aus der Dunkelheit in den geisterhaften Schein. Kein Ruck war durch mich gegangen, kein letzter Kampfwille. Es war mehr eine dumpfe Leere in meinen Eingeweiden, als die Erkenntnis sich dort festfraß, dass auch das schlimmste, was ich mir jetzt zusammenstammeln konnte, besser wäre, als der weiße Albtraum. Verzweifelter Aktionismus.

Ich tippte halbgare Satzunfälle. Löschte sie, tippte erneut, ließ sie entmutigt stehen und machte weiter. Es tat körperlich weh und war mir bis zur Übelkeit zuwider. Es dauerte quälend lange und es fühlte sich an, als würde ich mir die Worte aus dem eigenen Fleisch schneiden. Wie ein grausames, archaisches Opfer an einen blutdurstigen Apoll, der keine Erlösung für mich hatte und auch keine seiner Huren schickte. Nicht einmal die unbegabteste. Der mich einfach an seinem Altar wortlos scheitern ließ.

Wurde es besser? Kam ich irgendwann ins Schreiben „rein“? Nein. Schreiben ist kein Sprint, selbst unter Zeitdruck nicht, es ist ein Marathonlauf und in jener Nacht und den folgenden war es einer auf Glasscherben. Einer, bei dem man nur hoffen kann, wenn auch als letzter, dennoch das Ziel zu erreichen.

Wenn es dann, gegen die Uhr, doch noch getan ist, blicke ich auf die Arbeit, und bin nicht einmal erleichtert, es doch noch geschafft zu haben. Ich fühl mich ausgeweidet, müde und will mich nur notdürftig zusammen flicken und dann will ich Garnichts mehr.

Ich schlafe direkt neben dem Altar, an dem noch mein Blut klebt. Ich muss aufräumen und lüften. Irgendwann morgen. Wenn alles nicht mehr so schmerzt.

Die Porzellanfresserin

Man kann sie vom Fenster aus sehen zur Essenszeit. Eine dürre Frau im Regen, die Arme in ihren langen Mantel verkeilt. Sie sieht durch die Fenster, von ferne, sie kommt ihnen nicht zu nah. Sie starrt auf die Tische, voller Schüsseln und Teller und Tassen und Schalen. Man könnte sie für eine hungrige Obdachlose halten.

Woher sie stammt weiß niemand. Ich sah sie in den Niederlanden, nah am Meer, aber weit weg von den großen Städten und Zentren. Ich könnte mir vorstellen, dass sie den freien, vorhanglosen Blick mag, den sie in diesem Land in die Stuben hat, direkt in die Küchen und Esszimmer.

Ich hatte es wieder ganz vergessen. Es war nur eine Randnotiz, buchstäblich, denn ich schrieb die Geschichte auf, als ich sie hörte, dann wollte mir nicht der richtige Rahmen für diese interessante kleine Anekdote einfallen und so verwarf ich jeden weiteren Gedanken daran. Und die halbfertige Geschichte, deren erste Zeilen ihr gerade gelesen habt, ruhte als tote Schönheit sicher und ungestört auf meiner Festplatte und wartete auf die richtigen Umstände, die ihr Leben einhauchen würden. Ob diese Zeit gerade jetzt gekommen ist, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist die Randnotiz seit heute etwas länger. Aber beginnen wir von Anfang an.

Ich sah sie – wie gesagt – selbst. Fand sie im Winter eines neuen Jahres in den Niederlanden, die man von uns aus gesehen schnell erreichen kann, am Rande eines zum Hotel umgebauten Anwesens im Stile des 19. Jahrhundert. Es dauerte noch bis der Sommer die Touristen in Horden an die Küste treiben und auch dieses Hotel wach küssen würde. Jetzt lag das Anwesen verschlafen und melancholisch da. Der Wintergarten erinnerte an einen Glassarg. Wir befanden uns in einer Region, die beinahe eine Insel war, so eingeschlossen vom Meer und der Wind heulte an diesen rauen Tagen frei und eisig über das Land und riss an den Bäumen und Sträuchern, bevor es ihn wieder auf das Meer hinaus zog. Es war kühl in den Zimmern, egal was man tat und düster und schön. Mit spitzen Fingern klopfte der Regen unablässig gegen die Fenster und ein dunkles Grollen drang von draußen herein. Der Wintergarten war morgens der Frühstücksraum und man konnte den Blick über die weite Parklandschaft streifen lassen, die zu dieser Jahreszeit aber aus Bäumen bestand, die ihre skelettarme im Winde tanzen ließen und aus Gras in einem ungesunden, blassen grün, dass schwer vom Regen sich fast schon im Schlamm verkroch. Alles vor einer grauen Kulisse, angenehm zu beobachten mit einem warmen Kaffee in seinen Händen und dem Wissen, dass man den „tollen Tagen“ zuhause entkommen war.

In dieser Landschaft bemerkte ich sie, zwischen zwei Birken, zuerst dachte ich, sie wäre ein Spaziergänger, der das Wetter unterschätzt hätte, aber trotzdem nicht vom einmal gefassten Plan, den Garten zu erkunden, ablassen wollte. Sie hatte den Mantel fest an sich gedrückt und es war ja auch zu sehen, dass es draußen kalt sein musste. Ich beobachtete sie nicht näher und dachte auch nicht an sie. Da bemerkte meine Begleitung in diesen Tagen, wie schnell und dennoch dezent, hier die Tische aufgeräumt wurden, nachdem Gäste den Wintergarten verließen. Und tatsächlich konnte man beobachten, wie sehr schnell und nahezu lautlos jemand herein kam, das Geschirr auf ein Tablett verräumte und dann genauso wieder verschwand. Natürlich geht man davon aus, dass es sich um Personal handelt. Es war eine große, blasse Frau und nichts schien seltsam an ihr.

Das wiederholte sich während das Frühstück sich langsam verlief. Draußen war es grau und windig und niemand war mehr unterwegs. Als sich meine Blicke mit der, der Servicedame trafen, war ich mir fast sicher, dass ich sie eben noch draußen gesehen hatte, obwohl das ja nicht möglich war. Hätte sie eben noch weitab im Regen gestanden, zwischen den Birken und mit ihren großen Augen, wie hungrig, in den Wintergarten gestarrt, dann könnte sie ja jetzt nicht unangetastet von Wind und Wetter als Bedienung arbeiten.

Das alles ist letztendlich nicht seltsam und ich gebe  zu meiner Fantasie erlaubt zu haben sich mit dem Nordseewind durch die winterliche Landschaft treiben zu lassen. Ich habe mir ihre dürre Gestalt, ihre glasigen, fremden Augen und ihren lautlosen Gang etwas zu sehr zu Herzen kommen lassen und gerne Dinge gesehen, die garnicht zu sehen waren. Selbst wenn man bedenkt, dass sich später am Tage heraus stellte, dass jemand das komplette Porzellangeschirr des Hotels entwendet hatte, dann war sie immer noch eine gewöhnliche, wenn auch dreiste, Diebin.

Und auch, als wir an unserem letzten Tag hörten, dass das Geschirr gefunden wurde, im Garten zertrümmert an den überwucherten Steinbänken, dann war sie eben keine Diebin, sondern eine immer noch gewöhnliche, wenn auch dreiste, Vandalin.

Hätte unsere Fantasie diese Reise lang nicht selbst einige Reisen unternommen und wir im Wintergarten nicht an einem Abend von der seltsamen Feengestalt gehört, die man „de eter van de porselein“ nennt – wir übersetzten es mit „die Porzellanfresserin“ – hätte mich wohl nichts hiervon vor die Tastatur getrieben. Aber dann hörten wir dies, wie ich es schon andeutete, und es jetzt mitteile, Wort für Wort:

Man kann sie vom Fenster aus sehen, zur Essenszeit. Eine dürre Frau im Regen, die Arme in ihren langen Mantel verkeilt. Sie sieht durch die Fenster, von ferne, sie kommt ihnen nicht zu nah. Sie starrt auf die Tische, voller Schüsseln und Teller und Tassen und Schalen. Man könnte sie für eine hungrige Obdachlose halten.

Meistens bemerkt man sie nicht, aber kann man sie sehen und erkennt sie doch nicht, für das, was sie in Wahrheit ist, so wird man es bald bereuen. Denn ist man herzlos und will die Bettlerin verjagen, so bringt sie dem ganzen Haus Pech und am nächsten Tag ist vielleicht das komplette Geschirr zertrümmert. Aber will man etwas Gutes tun und lädt sie zu sich an den Tisch, so wird sie nicht essen und nicht trinken, aber mit der Zeit, wird man bemerken, dass immer weniger von dem guten Geschirr im Schrank ist und eines Tages, wird alles verschwunden sein. Manchmal wird danach, wie zum Dank, eine kleine, zierliche Porzellanpuppe im nun leeren Küchenschrank liegen und von da an, wird niemals wieder Geschirr im Hause kaputt gehen.

Was für eine seltsame Feengeschichte. Ich stellte mir die dürre Frau vor, wie sie Nachts im Wald hockte, umgeben von feinem, gestohlenen Porzellan, das vom fahlen Mondlicht in der Dunkelheit schimmerte, eine zierliche Untertasse zwischen ihnen Fingern die sie mit feinen, langen, spitzen Zähnen sorgfältig zernagte und zufrieden aß.

Merkwürdig schauerlich und gleichzeitig harmlos. Wir vermuteten Verwandtschaft mit der Legende der Zahnfee, oder dass diese seltsame Geschichte vielleicht von weit her kam und mit dem Porzellan selbst seinen Weg vor langer Zeit aus China fand.

Wie auch immer: Dies ereignete sich, wie gesagt, während bei uns der Karneval seine Spur der zwanghaften Fröhlichkeit durch die Innenstädte zog. Zurück in der Heimat ließ mich nichts mehr aufhorchen. Ich ging meinem Alltag nach, versuchte kurz Kaffee zu fasten, aber gab nach zwei Tagen heftigster Entzugskopfschmerzen auf. Vielleicht sah ich beim Spazieren oder Einkaufen irgendwann eine dünne, blonde Frau, deren Augen mir bekannt vorkamen auf der Straße. Vielleicht sah ich mal bei Nacht aus dem Fenster und sah jemand hochgewachsenen im Regen stehen, versuchend meine Küchenvorhänge mit dem Blick zu durchbohren. Vielleicht waren da auch nur die üblichen Heimkehrer, Spaziergänger, Nachbarn die ihre Hunde rausführten und Niemand seltsames erregte meine Aufmerksamkeit und sorgte für ein Déjà-vu. Ich bin mir nicht sicher. Ich war nicht mehr an der Nordsee und das fantasieren bleibt Zuhause auf der Strecke. Ganz davon abgesehen, dass meine Kaffeetassen mitnichten aus Porzellan sind. Wer hat so etwas schon noch im Haus?

Die ersten warmen Tage werden von den Nachbarn über mir und unter mir gerne für eine große Gartenparty genutzt. Ich hatte dieses Jahr keine Zeit, aber als ich später hörte, wie auch mancher Spaziergänger aus der Nachbarschaft eingeladen wurde, sich dazu zu gesellen und lange noch gewitzelt wurde, dass manche der fremden Besucher scheinbar nur zum Glotzen sich dazu setzten, aber auch nach mehrmaliger Aufforderung nichts aßen, da dachte ich an die Fastenzeit und das Manche sie nun mal ernster nahmen.

Das alles fiel mir nur heute wieder ein, als ich während der Vorbereitungen für ein Ostertreffen mit der Familie die Kiste mit dem guten Geschirr vom Speicher holen wollte und sie seltsam leicht war.

Ich sah den Aufkleber „Vorsicht: Porzellan“ und war im ersten Moment noch so rational mich zu fragen, ob feines Porzellan vielleicht einfach noch deutlich leichter ist, als ich es in Erinnerung habe. Aber das ist es nun einmal nicht.

Der Boden war bedeckt mit feinem, weißem Staub und darauf ruhte eine hübsche, zierliche Porzellanpuppe.

Ich habe mich tausendmal im Kreise der Familie dafür entschuldigt, dass das komplette gute Geschirr beim Umzug offensichtlich zu Bruch ging und wir so leider mein normales nutzen müssen – Gott sei Dank hatte ich die Kiste nicht geerbt! Drei Mal habe ich im Laufe des Kaffee und Kuchens verstohlen meine Tasse wie aus Versehen herunter geworfen, einmal sogar aus dem Fenster und sieht man davon ab, dass man mich jetzt für herausragend ungeschickt hält, blieb alles heil.

Die Puppe ist nicht mehr auf dem Dachboden, sie ist im Küchenschrank, wo sie scheinbar ihren Platz haben soll. Vielleicht ist das Alles ein Scherz meines Begleiters und der Rest Zufall und Einbildung.

Aber meine Fantasie reitet auf dem Nordseewind durch diesen Tag und ich zwing sie auch diese Nacht nicht heim.

Nebel am Eisernen Steg 2/2

Es gibt wenig Farbe in diesen Stunden, aber es gibt sie wenigstens. Das Gras ist grün, ich sehe es, wenn ich darauf gehe, aber es vergeht so schnell und vermischt sich mit dem farblosen Nebel und es ist schwer, die Erinnerung daran aufrecht zu halten. Waren die Enten rostrot, oder war das nur im Bild?

Bei der Blutbuche bleibe ich beinahe zu lange. Ich zeichne ihr Bild auf den Mülleimer an der Bank davor und versuche mir vorzustellen, wie sie bei Wind aussehen würde, versuche, die Dynamik ins Bild zu bringen, gerade so, wie ich einen Sturm in Erinnerung habe. Das vermisse ich so… Luft, die über mein Gesicht streicht, über meine Arme, die kalt in meinen Lungen ist, warm und stickig, oder nach Blüten duftet, nach der nassen Straße, nach Menschenmassen. Atmen! Atmen wäre so herrlich!

Ich kann es mir nicht gut genug vorstellen, irgendetwas fehlt in meinem Bild, ich weiß, es ist noch nicht richtig, aber ich muss weiter.

Ich gehe halb getrieben, halb gezogen, pflücke etwas Gras von dem schmalen Grünstreifen und schüttele den Tau davon ab. Wie schön die Welt ist, habe ich früher nicht wahrhaben wollen und jetzt gibt es nicht genügend Flächen, um alle Bilder aufzunehmen, die ich malen möchte. Malen muss?

Und dann erreiche ich die Fußgängerbrücke.

Hier ist noch kein Nebel, ich könnte ans andere Ufer laufen, das im Dunkeln liegt und ich renne auch, aber nur bis zur Hälfte, dann stoppe ich, beuge mich nach vorne und stütze meine Hände gegen die Oberschenkel, als wäre ich außer Atem – bin ich irgendwie ja auch… Ich sehe zur anderen Seite. Steht da jemand und schaut zu mir herüber?

Ich wende mich ab, weiter möchte ich nicht. Ich bin noch nie hinüber gelaufen. Es ist vielleicht albern: Ich glaube, von dort führt kein Weg zurück und ich bin mir nicht sicher, ob es mir dort gefallen würde.

Stattdessen trete ich an das Geländer, an dem gewissermaßen meine inspirierte Phase ihren Anfang nahm. Ich schau hinunter und hör das Wasser locken. Immer noch, nach dem ich ihm so viel gegeben habe… Ich muss bald zurück.

War es falsch damals? Natürlich hätte ich dem Wasser nicht nachgeben sollen. Ich hätte weghören können, mir Hilfe suchen. Einfach weiter atmen.

Das leichteste von der Welt…

Die Brückenträger rechts und links von mir zeugen von den Spuren, die ich bei jedem Spaziergang hier hinterlasse. Sie machen sie weg, aber ich mal einfach ein neues Bild. Immer tiefer dringt der Rost. Nimmt mich jemand wahr? Sieht jemand die kitschigen Zeichnungen des Mainufers, oder die dramatischeren eines Schattens, der sich in die Fluten stürzt? Oder reiße ich irgendwann Löcher in den Träger und sie werden es Materialermüdung nennen?

Der Nebel rückt näher, er hat mich an meinem Platz am Geländer längst eingeschlossen. Dann verschwindet meine Aussicht, kurz nachdem ich mit meinen Fingern die letzten Linien gezogen habe. Ich vermisse jetzt schon die Farben. Jetzt sind nur noch ich und mein Bild auf dem Geländer da. Es zeigt das Letzte, was ich sah. Ob den letzten Ausblick gerade eben, oder von damals kann ich jetzt schon nicht mehr sagen. Was mache ich hier? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich hier, weil ich es nicht weiß? Ist es Lehre? Belohnung? Bestrafung?

Ich weiß es nicht, ich weiß nichts mehr. Das Grau verwischt alles und von ihm verschlungen zu werden ist wie früher schlafen war, oder sich sterben ganz kurz anfühlte. Es zieht mich zurück ins Wasser und die Welt zerfließt mit dem Aufstieg der Sonne. Die Stadt erwacht und ich falle in einen Dämmerschlaf, warte auf das nächste Mal. Wenn die Welt wieder stillsteht und ich im Nebel wandern kann.

Nebel am Eisernen Steg 1/2

Das Wasser des Mains fließt so gemächlich, dass es fast zu stehen scheint. Es gleitet vorbei ohne großen Sinn für seine hektische Umgebung. Es hat etwas Hypnotisches in seinem zähen Lauf und als ich zum ersten Mal von der Brüstung aus auf es hinunter starrte, schien es mir, als würde es meinen Blick erwidern. Als rief es nach mir.

Die Stadt an seinem Ufer ist anders. Sie hat nie etwas von mir erwartet. Sie ist auch nie ruhig und still, aber es gibt da diese bestimmten, seltenen Momente, wenn mit der Dämmerung der Nebel aus dem Wasser kriecht und seine Wanderung über das Ufer beginnt. Es ist, als würde der Rest der Welt kurz stillstehen und der Nebel zieht wie durch ein Bild.

Es treibt mich mit auf diesen Spaziergang, ich kann gar nicht anders. Die Luft ist kalt und klamm, es ist fast, wie noch im Wasser zu sein, nur das die Welt hier steht und nicht zerfließt wie dort.

Ich sehe die Nilenten neben einer Baustelle schlafen. Ein einzelner Schwan unter ihnen. Im Hintergrund eine verwunschene Insel. Sie ragt kaum aus dem Nebel hervor. Meine Füße stoßen gegen ein umgekipptes Baustellenschild. Es liegt verkehrt herum und hat eine silberne Rückseite. Den Blick nicht von der Szenerie wendend gehe ich in die Hocke. Ich habe Angst, dass die Enten, der Schwan und die Insel einfach verschwinden könnten, wenn ich den Blick abwende. Aber ich muss, sonst kann ich es nicht tun! Ich muss kurz auf das Schild sehen, sonst wird es nicht gut…

Ich habe früher nicht gemalt. Ich weiß nicht warum, es ist mir einfach nie in den Sinn gekommen. Das mache ich erst, seit alles so ist, wie es jetzt ist und ich nichts berühren kann, ohne es unter meinen Fingern zu verändern. Zuerst habe ich es für einen Fluch gehalten, ein Mahl der Vergänglichkeit, das ich überall hinterlasse, als Strafe für das, was ich mir angetan habe. Ich würde nicht sagen, dass ich heute einen Sinn darin gefunden habe, aber ich mache damit etwas. Etwas… Schönes…

Meine klammen Finger hinterlassen kleine Rostblumen auf der silbernen Oberfläche. Ich habe nicht viel Zeit über das Motiv nachzudenken, jeder Zug muss sitzen. Ich skizziere das Ufer, die Vögel, die Äste, die gespenstisch aus dem Grau des Nebels ragen, wie jetzt der Rost aus dem Grau des Schildes.

Der Nebel zieht enger, die Szenerie verschwindet und er treibt mich weiter, aber ich sehe noch einmal herunter auf mein Bild aus Rost und es ist gut, ich hab einfangen können, was ich sehen durfte. Es verschwindet im Grau. Wenn ich nicht weiter gehe, dann endet mein Spaziergang hier. Man muss mit dem Nebel Schritt halten.

Der Nachbar

Ich schaue auf die Uhr, nur um herauszufinden, dass ich längst schlafen sollte. Es ist beinahe drei und bald klingelt schon wieder der Wecker. Im Fernseher wird geplappert, als ob die Nacht kein Ende hat, aber leider belügen sie sich selbst. Ich suche also die Fernbedienung, um auf Gedanken Taten folgen zu lassen, aber sie muss mir herunter gefallen sein… Ich kann sie einfach nicht finden.

Dann weiß ich plötzlich, dass dieser Nachbar durchs Treppenhaus geht. Ich sehe vom Wohnzimmer aus in Richtung Haustür und halte den Atem an. Es ist der Nachbar, der so seltsam ist, der plötzlich mitten in der Nacht in der Wohnung über mir tobt und schreit, als wollte er das Haus einreißen und dann genau so plötzlich wieder verstummt. Der Nachbar, der mich manchmal so seltsam anstarrt und dann mir mit einem Lächeln seine viel zu langen, spitzen Zähne zeigt. Genau dieser Nachbar ist nicht weiter in Richtung Straße gegangen. Er steht vor meiner Tür.

Er kratzt an meiner Tür.

Ich gehe langsam aus der Küche raus, ich bin so leise wie eine Katze. Im Flur ist es dunkel und kalt, aber die Tür ist gut zu sehen. Unter ihr bricht sich das Tageslicht aus dem Treppenhaus bahn. Es leuchtet bis zu mir und man sieht deutlich den Schatten, den seine Füße in meine Richtung werfen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals im Rhythmus des Schabens und Scharrens. Der Schlüssel steckt, ich habe den unwiderstehlichen Drang zusätzlich abzuschließen, damit er auf garkeinen Fall rein kann, aber dann wird er wissen, dass ich hier bin. Als ich dir Tür erreiche schwebt meine Hand über dem Schlüssel. Ich berühre ihn nicht, damit es nicht klimpert, ich atme nicht, er könnte auch das hören. Schnüffelt er? Er stockt, ich weiß er hat mich gewittert und panisch drehe ich den Schlüssel um. Es ist, als würde vor meiner Tür die Hölle losbrechen. Er schreit, er tritt und schlägt in Raserei gegen meine doch so dünne Haustür und ich stehe wie gebannt und hoffe, dass er keinen Weg rein findet.

Dann wird es plötzlich still, nur das Schleifen seiner Hände, als er sie an der Tür entlang gleiten lässt, bis ganz nach unten, wo das Licht einen Weg in meine Wohnung aufzeigt.

Lautlos schieben sich seine Finger durch diesen Spalt, unnatürlich flach und breiter schieben sich seine Handflächen hinterher, seine Arme quellen als knochenlose Muskelmasse durch den Spalt, durch den mittlerweile kaum noch Licht dringt und werden erst im Flur wieder sehnig und fest. Und mit einem Mal begreife ich es!

Anna blinzelt! Das war alles nicht echt! Es kann ja nicht echt sein! Sie träumte, das war die einzig logische Erklärung! In Wahrheit liegt sie in ihrem Bett, oder ist auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen. Diesen Nachbarn gibt es nicht. Über ihr wohnt niemand! Wie konnte sie das vergessen? Sie tritt von der Tür weg, sieht zu wie sich – was auch immer dieses Ding ist – immer weiter unter dem Türspalt durchdrückt und obwohl die Szene bereits so unwirklich geworden ist, dass sie sich selbst von oben sehen kann, wie sie dieses Ding anstarrt und dabei in dem Maße zurückweicht, wie Es größer wird, will sie nicht, dass es sie erreicht! Sie stolpert den Flur entlang, der nicht ihrer ist, nicht in Wirklichkeit, und stemmt sich im Wohnzimmer von Innen gegen die Tür. Aber es hat keinen Sinn, sie weiß, sie muss aufwachen, um entkommen zu können! Das Ding schnüffelt schon am Schlüsselloch, aber sie versucht es zu ignorieren, denkt an ihr echtes Bett, indem sie gerade liegen muss, denkt an ihre Augen, ihre Augen die in Wahrheit zu sind, sie muss sie nur öffnen! Sie muss nur wirklich aufwachen.

Sie wachte auf, im ersten Moment verwirrt noch im Wohnzimmer zu sein. Aber der Fernseher lief noch, es war gerade erst drei Uhr Nachts. Als sie nach der Fernbedienung suchte, vergaß sie bereits das geträumte, zurück blieb ein dumpfes Unwohlsein, das sich im Flur – in ihrem richtigen Flur – noch verstärkte. Aber sie schüttelte es ab und noch bevor sie das Schlafzimmer erreichte, blieb nicht einmal mehr eine Ahnung ihres Traumes übrig. Aber was hätte ihr die Erinnerung auch gebracht? Nie wäre sie bereit gewesen zu glauben, dass nur ein Stockwerk höher, in der unvermieteten Wohnung, ihr Nachbar sie zwischen den Dielen roch und langsam begann, sich seinen Weg durch die Dunkelheit zu bahnen.

Nocthene

Nocthene ist eine studentisch organisierte Schreibwerkstatt an meiner Uni, die jedes Semester zu regelmäßigen Treffen und gemeinsames Schreiben und Diskutieren über das Geschriebene einlädt. Die Hierarchien sind dabei sehr flach, es gibt Moderatoren, die letztendlich auch nur Studenten sind und wenig in die Diskussion eingreifen.
Für jede Sitzung gibt es einen Schreibauftrag, in kleiner Runde, begleitet von einem Moderator, wird der Text vorgelesen und dann besprochen. Ich denke, der Clou an der Veranstaltung ist weniger „endlich mal wieder zum Schreiben zu kommen“, sondern mehr, das Feedback, das man bekommt. Denn das ist das eigentlich rare beim Schreiben. Hier kann man also einen – auch etwas längeren Text – vorlesen und sehen, wie er auf die Hörer wirkt. Alle waren wahnsinnig motiviert, was die Diskussionen rege machte 🙂
Ich spreche jetzt gar nicht so positiv darüber, weil mein Text gelobt wurde. Ich habe mein Irrlicht samt ihrem Sumpf dabei und die Reaktionen der Moderatoren waren sehr verhalten. Ich habe auch nicht mit Jubelstürmen gerechnet, der Text ist speziell und mit Sicherheit kann man ihn auch an ein paar Stellen noch verbessern. Einige Kritikpunkte konnte ich auch voll und ganz nachvollziehen, auch wenn ich dennoch nicht die Notwendigkeit sehe, den Rotstift zu schnappen und den Text erneut abzuändern 😉 Ich denke aber auch, dass die meisten Texte nicht für jeden Leser gleich gut funktionieren und wenn der Sumpf für zwei unverständlich bleibt, sich für drei andere jedoch erschließt, dann ist die Quote doch ganz in Ordnung gewesen!
Eine Hörerin hat sich gefragt, warum sich die Ich-Erzählerin umbringt (nein – umbringen will, für sie war das Mädchen noch nicht tot) und obwohl ich finde, dass sich die Frage „Wie konnte sie nur so weit gehen?“ gar nicht stellt, fand ich es irgendwie sehr schön, dass ihr jemand fassungslos hinterher sah und die Fragen stellte, die nicht vorgesehen waren. Ich hab mich sehr darüber gefreut, dass eine sich an Novalis erinnert fühlte, denn ohne Novalis ist der Text für mich schwer vorstellbar. Und eine der schönsten Reaktionen ist wohl das Einfache „sowas könnte ich niemals schreiben“, das einfach zeigt, dass irgendwas auf alle Fälle angekommen sein muss und mein Text nicht als banal empfunden wurde.
An sich finde ich es schwierig, mit anderen über das Schreiben ins Gespräch zu kommen, es ist im Kern ein einsames Hobby und ein Autor ist ja nicht unbedingt ein guter Leser: Feedback geben ist eine Kunst für sich. Auch sind regelmäßige Treffen zwar eine schöne, strukturierte Sache, aber meine Kreativität hat dann doch ihren eigenen Terminplan und der kennt keine Regelmäßigkeiten. Dennoch lohnt es sich den Kontakt zu suchen und ist er erstmal da, kann er wahnsinnig produktiv sein. Dementsprechend bemühe ich mich schon, für das nächste Mal etwas zu Stande zu bringen.

 

 

Ersatzprogramm

Hochnebel heisst das einzige Naturspektakel das meine Siedlung heute heimgesucht hat. Ich wünschte, ich könnte davon erzählen, wie es plötzlich kälter wurde, wie die Vögel inne hielten in einer gespenstischen, unnatürlichen Dunkelheit die plötzlich über einen schönen Morgen kam. Von den Farben die mehr wie Blei waren, so stumpf und mutlos. Von Sonne und Mond in seltener Verschmelzung vor meinen Augen.

Stattdessen war der Himmel wie Beton und die Welt ignorierte was dort weit über den Wolken stattfand. Der Tanz der Sterne blieb eine unbewiesene Theorie aus Internet und Nachrichten und wurde einfach nicht Realität.


Es ist zwar Möglich selbst dieses Nicht-Ereignis zum Anlass zu nehmen, etwas zu schreiben, aber sollte man auch?
Ich konnte zum Beispiel wirklich den Eindruck gewinnen, das der Mond zu seinem Rendezvous mit der Sonne vielleicht garnicht erschienen ist. Vielleicht ist er fort? Denn er geht auch jetzt, da es dunkel wird, nicht auf und dabei schaut er immer als erstes in mein Arbeitszimmer herein, bevor er seine Wanderung beginnt…
Aber als ich heute Morgen vergeblich in den Himmel blickte, war mir nicht sonderlich nach einer poetischen Überhöhung von etwas, dass nur ärgerlicher Hochnebel war.
Deswegen möchte ich Ausnahmsweise ein Ersatzprogramm bieten:

„Total eclipse of the heart“

ist ein Lied zum Kuscheln mit einem etwas seltsamen Musikvideo. Es passt damit nicht nur vom Namen her zu diesem Tag, denn vom Hören klang dieser Morgen sehr gut, was man dazu aber sehen konnte, wollte nicht recht zum Ereignis passen, so wie Musik und dazu gehöriges Video. Das ist nur anders in dieser Version, in der gesungen wird, was man auch sieht. Ein solcher Einklang von Bild und Ton möchte ich diesem Tag gegenüber stellen:

Total eclipse of the heart literal video

Das reicht aber nicht.

Ich fühle meinen geneigten Lesern gegenüber noch eine gewisse Informationspflicht der ich mit diesem Post noch nicht zur Genüge nachgekommen bin, deswegen möchte ich das Video noch ergänzen durch ein Rezept für Tassenkuchen, mit dem man sich über poetisch unbefriedigende Tage retten kann:

Rezept für 2 Tassen

  • 30g Butter
  • 55g Zucker
  • 60g Mehl
  • 1 Prise Salz
  • 3 Esslöffel Milch
  • 1 Ei
  • 1 Messerspitze Backpulver

Mehl und Backpulver müssen durch ein Sieb, damit beides sich gut vermischen kann und nicht verklumpt. Alles Weitere wird dazu gegeben und zu einem glatten Teig vermengt. Das teilt man nun auf zwei Tassen auf und gibt jede einzelne für drei Minuten in die Mikrowelle. Backofen würde natürlich auch funktionieren, braucht dann aber länger. Da schau ich immer, wann der Kuchen aufgeht, dann ist er fertig.

Ein passendes Icing gibt es dann bei der nächsten Gelegenheit, zum Beispiel 2026, wenn die nächste Sonnenfinsternis ausfällt 😉

 

Grüße,

Irrwisch

Willkommen im Geisterhaus

Dies hier ist ein Geisterhaus. Es wohnt keiner darin, aber es ist nicht verlassen. Ein Flüstern durchstreift das Gemäuer, das Rauschen des Windes in den nahen Birken ist die Antwort. Siehst du in die leeren Fensterhöhlen, wird etwas deinen Blick erwidern. Schatten lösen sich aus der Dämmerung und beginnen zu wandern…


Mein Blog ist mit dieser Nacht offiziell umgezogen.  Ich bin neu in solchen Dingen und erstmal froh, dass alles funktioniert 🙂

Es ist Anfang diesen Jahres etwas still. Ich bin aber nicht im Winterschlaf und habe schon garnicht aufgehört. Aber es gibt im Moment ein, zwei Ausschreibungen dir mir aufgefallen sind und ich träume davon, es doch auch mal mit einem Text zu versuchen! Die Welt ohne Mond, die weißen Frauen, die schwarzen Männer, die Ghoule, Undine, Salamander und was sich sonst noch alles hinter analogen und digitalen Notizzetteln versteckt, muss warten, während ich mich auf ausgewählte Stücke konzentriere. Nicht zu vergessen, dass die Welt jenseits des Schreibens auch noch ein paar Herausforderungen zu bieten hat, die mich dieses Jahr sehr einnehmen werden.

Dennoch, der Blog soll mich bei alledem begleiten  und gerade wenn ich viel zu tun habe, gibt es immer mal wieder kleine kreative Schübe, die einen Schlüssel zum Geisterhaus bekommen sollen.

Soweit also, willkommen auf der neuen Seite, ich hoffe es gefällt euch und es funktioniert wirklich alles und auf bald.

-Irrwisch

Der Mond – Ein Märchen

In einem weit entfernten Land, wanderte einst ein Zauberer. Sein Herz war schwarz von Trauer, in seinem Arm lag in einem sorgfältigen Bündel seine tote Tochter, die niemals einen Blick auf diese Welt hatte werfen können. Es war genauso Nacht gewesen, wie bei jedem anderen Kind davor. Von der Dunkelheit des Mutterleibs, über den schlecht beleuchteten Planwagen unter die feuchte Erde. Kein Licht fiel je auf seine Kinder, nicht einmal die Reflexion des Mondes. Es waren winzige, farblose Leiber, denen er in der Dunkelheit ‚Adieu‘ sagte, so lebendig wie die Felsen um ihn herum und dieses Mal fühlte er wie etwas in ihm brach, wie etwas vor Belastung, vor Müdigkeit und andauernder Qual nachgab.
Da trat ein Wolfshund aus dem Dickicht, ihn zu begleiten.
„Fürchte dich nicht und hab Vertrauen. Was dir auch immer hier widerfährt, es hat doch Sinn. Kannst du ihn auch im Moment nicht fassen, so gibt es doch jemanden, der deine Schritte lenkt, der etwas mit dir vorhat. Nichts geschieht Grundlos.“
„Ein solches Vertrauen in seinen Herrn steht dem Hund. Sie vertrauen ihm noch, während sie erschlagen werden. Aber was für einen Herrn haben die Menschen?“, erwiderte der Zauberer.
Es konnte nicht richtig sein, dass ein Kind starb, ohne einen einzigen Blick auf diese Welt, ein einziges Mal Luft geschmeckt zu haben. Früher hatte er an Kontraste geglaubt, dass die Realität zu gleichen Teilen aus Licht und Schatten gebildet sei. Leben und Tod, so hieß es, müssen die Welt gemeinsam gestalten. Leiden gebärt Glück und umgekehrt und er war immer bereit gewesen, klaglos all die schlechten Zeiten mit seiner Frau an seiner Seite zu ertragen, denn sie sagten, auf eine dunkle Nacht, folgt auch wieder ein Tag und auf einen Tag, muss die Nacht folgen und als Zeichen, dass sie immer auch wieder weichen würde, galt der Mond, denn sein Licht kommt in Wahrheit von der Sonne. Aber aus einem lange gehegten Zweifel wurde jetzt die Gewissheit, dass dieses Gleichgewicht eine Lüge war. Ein Betrug an ihm und seiner geliebten Frau, deren Nacht ewig war.
Er jagte den Hund von sich.
Da trat ein Schakal aus dem Dickicht, ihn zu begleiten.
„Es stimmt, du bist niemandes Knecht. Der Mensch schafft selbst die Regeln, nach denen es ihm zu leben beliebt. Und du bist ein Magier. Ihr Tod muss keine Bedeutung haben!“
„Es ist wahr.“, sprach der Zauberer, „Ich könnte ihr wieder Leben einhauchen. Aber es ist nicht erlaubt.“
„Was scheren dich Verbote einer Welt, die Falsch ist?“
„Nichts, Schakal.“, sprach der Zauberer, „Aber es wäre nicht zum Wohl meiner Tochter. Es gibt keinen Weg sie zurück zu holen, jedenfalls nicht ganz. Sie wäre nur ein Schatten. Was wäre ich für ein Vater? Geh!“
Und der Schakal blieb zurück.
Er erreichte den Fluss und kniete an seinem Ufer nieder. Das Wasser war Tief und Dunkel und ihr Grab.
Es gab niemanden zur Verantwortung zu ziehen. Von Niemandem konnte er eine Erklärung verlangen oder gar Vergeltung. Aber auch keine Versöhnung, kein Vertrauen, keine Akzeptanz. Sowenig wie Protest, Auflehnung, Rebellion. Es gab Nichts.
Und dann hatte er eine Welt satt, die keine Hoffnung, keine Wunder zuließ, sondern nur endlosen Abschied, noch vor dem ersten ‚Hallo‘. All das Schöne durfte hier nur trügerische Illusion sein. Magie war ein billiger Trick auf seiner Bühne, wenn er seine Frau vor aller Augen verschwinden ließ und er hatte es satt, ein Lügner zu sein.
Da zog eine Krabbe langsam die Uferböschung entlang.
„Es gibt noch einen Weg, Zauberer.“, begann sie, „Du konntest nie Zeit mit ihr verbringen, aber die Ewigkeit gehört euch. Lass deine Tochter nicht allein hier in der Kälte und der Dunkelheit. Leg dich mit ihr zur Ruhe. Du siehst so müde aus und hast du nicht genug gesehen? Kann deine Wanderung hier nicht ein schönes Ende finden?“
Der Zauberer sah in die Dunkelheit einer Neumondnacht. Vor dem Licht war die Dunkelheit gewesen. Nein, Licht war eine Illusion, nur die Dunkelheit echt. Die Nacht war alles, ins Wasser zu steigen, fühlte sich an, wie einer lang verlorenen Heimat näher zu kommen. Er glaubte nicht mehr an das Gleichgewicht, er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Es wollte es zufrieden sein, wenn es dunkel blieb und Still wurde.
Aber auch das durfte nicht sein. Die Welt hatte sich nicht nur gegen ihn verschworen, auch gegen seine Frau. Unmöglich sie allein in der Dunkelheit zu lassen.
Er tauchte wieder auf, vertrieb die Krabbe, die ihm vom Ufer aus zugeguckt hatte und blieb erschöpft dort liegen. Starrte in diese lichtlose Nacht.
Der Mond war ein Blender! dachte er plötzlich.
Wieso war dieser taube Felsen überhaupt dort oben? Welchen Zweck hat es, dem Tag seine schönen und seine dunklen Stunden zu geben, welchen Sinn hat das Rotieren der Erde, das für den Winter, aber eben auch für den Sommer sorgt? Alles scheint so gerecht geordnet. All diese Gesetzte… Welchen Sinn haben sie, wenn sie uns übersehen, wenn wir nur die Nacht bekommen? Warum, ist er da oben und schickt uns das Licht der Sonne, dass wir nie erhaschen dürfen?
Als er sprach, war unklar zu wem. Vielleicht ahnte er, dass der Hund und der Schakal und auch die Krabbe noch in der Nähe waren und leise auf seine Entscheidung horchten, vielleicht dachte er auch nicht daran und ließ seine Stimme in einer seelenlosen Welt verhallen:
„Stell dir vor, der Mond würde nach Neumond nicht wieder erscheinen. Stell dir vor, all die Regelmäßigkeiten des Lebens, all das auf und ab, Nacht und Tag, Sommer und Winter, Leben und Tod, würden in Frage gestellt, so wie der Tod das Leben im Schoß meiner Frau in Frage stellt, immer und immer wieder? Stell dir vor, der Mond würde fort bleiben und die Nacht wäre wirklich schwarz. Stell dir vor, nur für einen einzigen Moment, wären die Gesetzte zu brechen, die uns auferlegt sind und wir wären, für diesen einen Augenblick, wirklich frei…“
Er ballte die Fäuste im feuchten Ufergras und wusste endlich, was er tun würde. Der Mond würde endlich sein Versprechen einlösen und er, der Zauberer, wäre kein Lügner mehr.

„Und dann?“, Maro starrte seine Mutter ungläubig an, die sich zurück lehnte, als wäre alles erzählt.
„Mehr weiß man nicht. Der Zauberer verschwand und die Tiere konnten ihm nicht folgen. Aber nach Neumond blieb der Mond verschwunden.“
Maro verzog das Gesicht über das unbefriedigende Ende.
„Du siehst“, setzte seine Mutter neu an, „dass der Mond nicht mehr zu sehen ist, ist nicht traurig. Es bedeutet, dass nichts unmöglich ist für uns Menschen, auch wenn die Welt manchmal voller Grenzen scheint. Wir überwinden sie.“
„Was hat der Zauberer mit dem Mond gemacht?“
Sie strich ihm über sein Aschblondes Haar.
„Das weiß nur er und vielleicht noch seine Frau. Vielleicht hat er ihn ja behalten, ihr zum Geschenk gemacht. Vielleicht kümmern sie sich um ihn anstelle eines eigenen Kindes?“
„Das wär ja eine komische Familie!“, lachte Maro.
„Ja, das wäre sie.“
Sie küsste ihm die Stirn und deckte ihn zu.
Als sie das Licht ausmachte, kam ihr Mann leise heran. Gemeinsam betrachteten sie den Jungen im Schlaf. Seine Haut war so weiß, dass sie im Dunkeln leicht zu schimmern schien. Ein Geheimnis, dass sie sicher zwischen sich verwahrten.

Mädchen ohne Mond

Karo setzte ein schnörrkelreiches „Ende“ mittig unter ihren Text. Es war fast mehr gemalt, als geschrieben. Sie sah nach draußen in die dunkle Nacht, als könnte er gleich auftauchen.
Wenn man manchen „Experten“ im Fernsehen glauben wollte, dann war das ja auch möglich. Aber sie war nicht dumm. Natürlich konnte er nicht plötzlich auftauchen. Er war jetzt seit über 15 Jahren nicht mehr zu sehen. Karo kannte ihn nur von Fotos oder von Gedichten, von den Geschichten, in denen Ebbe und Flut vorkamen, sie kannte ihn von den Aufnahmen, wie Armstrong ihn betrat. Aber gesehen hatte sie ihn natürlich nie. Manchmal, wenn ihre Tante von der Schlaflosigkeit erzählte, unter der sie bei Vollmond litt, oder wenn in einem alten Film, sich jemand unter seinem Schein in ein Monster verwandelte, kam er ihr zu mysteriös vor, um echt zu sein.
In der Schule hatte man ihnen erklärt, warum man ihn jetzt nicht mehr sah, es war eine ganz logische und langweilige Erklärung und das ‚warum‘ war auch nicht entscheidend.
Sie war immer noch gut im Malen und hätte gerne die Strahlen des Mondes von mehr als einem Bild versucht einzufangen. Ihre Mutter meinte mal, dass ihrer Generation etwas fehlen würde, wenn man ihn am Himmel nicht sehen kann. Aber das war eine diffuse Idee, sie hätte nicht erklären können, was da konkret verloren ging.
Da hatte sie angefangen, berühmte Gemälde nachzumalen und als einziges Detail den Mond weg zu lassen. „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ lag in dieser Version auf ihrem Tisch. Und obwohl sie bei weitem nicht so gut war, wie Friedrich, so erkannte man es doch und auch den „Fehler“ darin.
Das war das seltsame: Niemand wollte Kunst sehen, die den Mond verschwunden zeigte. Von Gemälden bis hin zum Kino. Der Abschied des Mondes fand dort einfach nicht statt. Alle Welt wollte an ihn erinnert werden.
In einem seltsamen Moment der Sehnsucht nach diesem Phänomen, das ihr vorenthalten wurde, versuchte sie zu Papier zu bringen, wie es wäre, wenn es ihn nie gegeben hätte. Wenn er wirklich nur in Geschichten existieren würde und alle damit zufrieden wären. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es ihn geben sollte und das etwas falsch war, wenn man ihn nicht sehen konnte.
Auf einem neuen Blatt schrieb sie von einer Welt, in der der Mond nie verschwunden war und positionierte beide Extreme jeweils rechts und links um ihren Friedrich. Betrachtete das düstere, aber friedliche Bild.
Vielleicht war bei den beiden Männern gerade Neumond und sie sahen nur ins Tal hinunter.
Vielleicht erzählen sich die beiden Männer gerade eine Geschichte darüber, wie der Mond verschwand. Eine märchenhafte Fabel über einen Meisterdieb oder bösen Zauberer?
Sie schrieb ‚Es war einmal‘ auf eine leere Seite, aber dann wusste sie schon nicht mehr weiter und beschloss, sich lieber wieder auf das Malen zu konzentrieren.

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