Man kann sie vom Fenster aus sehen zur Essenszeit. Eine dürre Frau im Regen, die Arme in ihren langen Mantel verkeilt. Sie sieht durch die Fenster, von ferne, sie kommt ihnen nicht zu nah. Sie starrt auf die Tische, voller Schüsseln und Teller und Tassen und Schalen. Man könnte sie für eine hungrige Obdachlose halten.

Woher sie stammt weiß niemand. Ich sah sie in den Niederlanden, nah am Meer, aber weit weg von den großen Städten und Zentren. Ich könnte mir vorstellen, dass sie den freien, vorhanglosen Blick mag, den sie in diesem Land in die Stuben hat, direkt in die Küchen und Esszimmer.

Ich hatte es wieder ganz vergessen. Es war nur eine Randnotiz, buchstäblich, denn ich schrieb die Geschichte auf, als ich sie hörte, dann wollte mir nicht der richtige Rahmen für diese interessante kleine Anekdote einfallen und so verwarf ich jeden weiteren Gedanken daran. Und die halbfertige Geschichte, deren erste Zeilen ihr gerade gelesen habt, ruhte als tote Schönheit sicher und ungestört auf meiner Festplatte und wartete auf die richtigen Umstände, die ihr Leben einhauchen würden. Ob diese Zeit gerade jetzt gekommen ist, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist die Randnotiz seit heute etwas länger. Aber beginnen wir von Anfang an.

Ich sah sie – wie gesagt – selbst. Fand sie im Winter eines neuen Jahres in den Niederlanden, die man von uns aus gesehen schnell erreichen kann, am Rande eines zum Hotel umgebauten Anwesens im Stile des 19. Jahrhundert. Es dauerte noch bis der Sommer die Touristen in Horden an die Küste treiben und auch dieses Hotel wach küssen würde. Jetzt lag das Anwesen verschlafen und melancholisch da. Der Wintergarten erinnerte an einen Glassarg. Wir befanden uns in einer Region, die beinahe eine Insel war, so eingeschlossen vom Meer und der Wind heulte an diesen rauen Tagen frei und eisig über das Land und riss an den Bäumen und Sträuchern, bevor es ihn wieder auf das Meer hinaus zog. Es war kühl in den Zimmern, egal was man tat und düster und schön. Mit spitzen Fingern klopfte der Regen unablässig gegen die Fenster und ein dunkles Grollen drang von draußen herein. Der Wintergarten war morgens der Frühstücksraum und man konnte den Blick über die weite Parklandschaft streifen lassen, die zu dieser Jahreszeit aber aus Bäumen bestand, die ihre skelettarme im Winde tanzen ließen und aus Gras in einem ungesunden, blassen grün, dass schwer vom Regen sich fast schon im Schlamm verkroch. Alles vor einer grauen Kulisse, angenehm zu beobachten mit einem warmen Kaffee in seinen Händen und dem Wissen, dass man den „tollen Tagen“ zuhause entkommen war.

In dieser Landschaft bemerkte ich sie, zwischen zwei Birken, zuerst dachte ich, sie wäre ein Spaziergänger, der das Wetter unterschätzt hätte, aber trotzdem nicht vom einmal gefassten Plan, den Garten zu erkunden, ablassen wollte. Sie hatte den Mantel fest an sich gedrückt und es war ja auch zu sehen, dass es draußen kalt sein musste. Ich beobachtete sie nicht näher und dachte auch nicht an sie. Da bemerkte meine Begleitung in diesen Tagen, wie schnell und dennoch dezent, hier die Tische aufgeräumt wurden, nachdem Gäste den Wintergarten verließen. Und tatsächlich konnte man beobachten, wie sehr schnell und nahezu lautlos jemand herein kam, das Geschirr auf ein Tablett verräumte und dann genauso wieder verschwand. Natürlich geht man davon aus, dass es sich um Personal handelt. Es war eine große, blasse Frau und nichts schien seltsam an ihr.

Das wiederholte sich während das Frühstück sich langsam verlief. Draußen war es grau und windig und niemand war mehr unterwegs. Als sich meine Blicke mit der, der Servicedame trafen, war ich mir fast sicher, dass ich sie eben noch draußen gesehen hatte, obwohl das ja nicht möglich war. Hätte sie eben noch weitab im Regen gestanden, zwischen den Birken und mit ihren großen Augen, wie hungrig, in den Wintergarten gestarrt, dann könnte sie ja jetzt nicht unangetastet von Wind und Wetter als Bedienung arbeiten.

Das alles ist letztendlich nicht seltsam und ich gebe  zu meiner Fantasie erlaubt zu haben sich mit dem Nordseewind durch die winterliche Landschaft treiben zu lassen. Ich habe mir ihre dürre Gestalt, ihre glasigen, fremden Augen und ihren lautlosen Gang etwas zu sehr zu Herzen kommen lassen und gerne Dinge gesehen, die garnicht zu sehen waren. Selbst wenn man bedenkt, dass sich später am Tage heraus stellte, dass jemand das komplette Porzellangeschirr des Hotels entwendet hatte, dann war sie immer noch eine gewöhnliche, wenn auch dreiste, Diebin.

Und auch, als wir an unserem letzten Tag hörten, dass das Geschirr gefunden wurde, im Garten zertrümmert an den überwucherten Steinbänken, dann war sie eben keine Diebin, sondern eine immer noch gewöhnliche, wenn auch dreiste, Vandalin.

Hätte unsere Fantasie diese Reise lang nicht selbst einige Reisen unternommen und wir im Wintergarten nicht an einem Abend von der seltsamen Feengestalt gehört, die man „de eter van de porselein“ nennt – wir übersetzten es mit „die Porzellanfresserin“ – hätte mich wohl nichts hiervon vor die Tastatur getrieben. Aber dann hörten wir dies, wie ich es schon andeutete, und es jetzt mitteile, Wort für Wort:

Man kann sie vom Fenster aus sehen, zur Essenszeit. Eine dürre Frau im Regen, die Arme in ihren langen Mantel verkeilt. Sie sieht durch die Fenster, von ferne, sie kommt ihnen nicht zu nah. Sie starrt auf die Tische, voller Schüsseln und Teller und Tassen und Schalen. Man könnte sie für eine hungrige Obdachlose halten.

Meistens bemerkt man sie nicht, aber kann man sie sehen und erkennt sie doch nicht, für das, was sie in Wahrheit ist, so wird man es bald bereuen. Denn ist man herzlos und will die Bettlerin verjagen, so bringt sie dem ganzen Haus Pech und am nächsten Tag ist vielleicht das komplette Geschirr zertrümmert. Aber will man etwas Gutes tun und lädt sie zu sich an den Tisch, so wird sie nicht essen und nicht trinken, aber mit der Zeit, wird man bemerken, dass immer weniger von dem guten Geschirr im Schrank ist und eines Tages, wird alles verschwunden sein. Manchmal wird danach, wie zum Dank, eine kleine, zierliche Porzellanpuppe im nun leeren Küchenschrank liegen und von da an, wird niemals wieder Geschirr im Hause kaputt gehen.

Was für eine seltsame Feengeschichte. Ich stellte mir die dürre Frau vor, wie sie Nachts im Wald hockte, umgeben von feinem, gestohlenen Porzellan, das vom fahlen Mondlicht in der Dunkelheit schimmerte, eine zierliche Untertasse zwischen ihnen Fingern die sie mit feinen, langen, spitzen Zähnen sorgfältig zernagte und zufrieden aß.

Merkwürdig schauerlich und gleichzeitig harmlos. Wir vermuteten Verwandtschaft mit der Legende der Zahnfee, oder dass diese seltsame Geschichte vielleicht von weit her kam und mit dem Porzellan selbst seinen Weg vor langer Zeit aus China fand.

Wie auch immer: Dies ereignete sich, wie gesagt, während bei uns der Karneval seine Spur der zwanghaften Fröhlichkeit durch die Innenstädte zog. Zurück in der Heimat ließ mich nichts mehr aufhorchen. Ich ging meinem Alltag nach, versuchte kurz Kaffee zu fasten, aber gab nach zwei Tagen heftigster Entzugskopfschmerzen auf. Vielleicht sah ich beim Spazieren oder Einkaufen irgendwann eine dünne, blonde Frau, deren Augen mir bekannt vorkamen auf der Straße. Vielleicht sah ich mal bei Nacht aus dem Fenster und sah jemand hochgewachsenen im Regen stehen, versuchend meine Küchenvorhänge mit dem Blick zu durchbohren. Vielleicht waren da auch nur die üblichen Heimkehrer, Spaziergänger, Nachbarn die ihre Hunde rausführten und Niemand seltsames erregte meine Aufmerksamkeit und sorgte für ein Déjà-vu. Ich bin mir nicht sicher. Ich war nicht mehr an der Nordsee und das fantasieren bleibt Zuhause auf der Strecke. Ganz davon abgesehen, dass meine Kaffeetassen mitnichten aus Porzellan sind. Wer hat so etwas schon noch im Haus?

Die ersten warmen Tage werden von den Nachbarn über mir und unter mir gerne für eine große Gartenparty genutzt. Ich hatte dieses Jahr keine Zeit, aber als ich später hörte, wie auch mancher Spaziergänger aus der Nachbarschaft eingeladen wurde, sich dazu zu gesellen und lange noch gewitzelt wurde, dass manche der fremden Besucher scheinbar nur zum Glotzen sich dazu setzten, aber auch nach mehrmaliger Aufforderung nichts aßen, da dachte ich an die Fastenzeit und das Manche sie nun mal ernster nahmen.

Das alles fiel mir nur heute wieder ein, als ich während der Vorbereitungen für ein Ostertreffen mit der Familie die Kiste mit dem guten Geschirr vom Speicher holen wollte und sie seltsam leicht war.

Ich sah den Aufkleber „Vorsicht: Porzellan“ und war im ersten Moment noch so rational mich zu fragen, ob feines Porzellan vielleicht einfach noch deutlich leichter ist, als ich es in Erinnerung habe. Aber das ist es nun einmal nicht.

Der Boden war bedeckt mit feinem, weißem Staub und darauf ruhte eine hübsche, zierliche Porzellanpuppe.

Ich habe mich tausendmal im Kreise der Familie dafür entschuldigt, dass das komplette gute Geschirr beim Umzug offensichtlich zu Bruch ging und wir so leider mein normales nutzen müssen – Gott sei Dank hatte ich die Kiste nicht geerbt! Drei Mal habe ich im Laufe des Kaffee und Kuchens verstohlen meine Tasse wie aus Versehen herunter geworfen, einmal sogar aus dem Fenster und sieht man davon ab, dass man mich jetzt für herausragend ungeschickt hält, blieb alles heil.

Die Puppe ist nicht mehr auf dem Dachboden, sie ist im Küchenschrank, wo sie scheinbar ihren Platz haben soll. Vielleicht ist das Alles ein Scherz meines Begleiters und der Rest Zufall und Einbildung.

Aber meine Fantasie reitet auf dem Nordseewind durch diesen Tag und ich zwing sie auch diese Nacht nicht heim.