In einem weit entfernten Land, wanderte einst ein Zauberer. Sein Herz war schwarz von Trauer, in seinem Arm lag in einem sorgfältigen Bündel seine tote Tochter, die niemals einen Blick auf diese Welt hatte werfen können. Es war genauso Nacht gewesen, wie bei jedem anderen Kind davor. Von der Dunkelheit des Mutterleibs, über den schlecht beleuchteten Planwagen unter die feuchte Erde. Kein Licht fiel je auf seine Kinder, nicht einmal die Reflexion des Mondes. Es waren winzige, farblose Leiber, denen er in der Dunkelheit ‚Adieu‘ sagte, so lebendig wie die Felsen um ihn herum und dieses Mal fühlte er wie etwas in ihm brach, wie etwas vor Belastung, vor Müdigkeit und andauernder Qual nachgab.
Da trat ein Wolfshund aus dem Dickicht, ihn zu begleiten.
„Fürchte dich nicht und hab Vertrauen. Was dir auch immer hier widerfährt, es hat doch Sinn. Kannst du ihn auch im Moment nicht fassen, so gibt es doch jemanden, der deine Schritte lenkt, der etwas mit dir vorhat. Nichts geschieht Grundlos.“
„Ein solches Vertrauen in seinen Herrn steht dem Hund. Sie vertrauen ihm noch, während sie erschlagen werden. Aber was für einen Herrn haben die Menschen?“, erwiderte der Zauberer.
Es konnte nicht richtig sein, dass ein Kind starb, ohne einen einzigen Blick auf diese Welt, ein einziges Mal Luft geschmeckt zu haben. Früher hatte er an Kontraste geglaubt, dass die Realität zu gleichen Teilen aus Licht und Schatten gebildet sei. Leben und Tod, so hieß es, müssen die Welt gemeinsam gestalten. Leiden gebärt Glück und umgekehrt und er war immer bereit gewesen, klaglos all die schlechten Zeiten mit seiner Frau an seiner Seite zu ertragen, denn sie sagten, auf eine dunkle Nacht, folgt auch wieder ein Tag und auf einen Tag, muss die Nacht folgen und als Zeichen, dass sie immer auch wieder weichen würde, galt der Mond, denn sein Licht kommt in Wahrheit von der Sonne. Aber aus einem lange gehegten Zweifel wurde jetzt die Gewissheit, dass dieses Gleichgewicht eine Lüge war. Ein Betrug an ihm und seiner geliebten Frau, deren Nacht ewig war.
Er jagte den Hund von sich.
Da trat ein Schakal aus dem Dickicht, ihn zu begleiten.
„Es stimmt, du bist niemandes Knecht. Der Mensch schafft selbst die Regeln, nach denen es ihm zu leben beliebt. Und du bist ein Magier. Ihr Tod muss keine Bedeutung haben!“
„Es ist wahr.“, sprach der Zauberer, „Ich könnte ihr wieder Leben einhauchen. Aber es ist nicht erlaubt.“
„Was scheren dich Verbote einer Welt, die Falsch ist?“
„Nichts, Schakal.“, sprach der Zauberer, „Aber es wäre nicht zum Wohl meiner Tochter. Es gibt keinen Weg sie zurück zu holen, jedenfalls nicht ganz. Sie wäre nur ein Schatten. Was wäre ich für ein Vater? Geh!“
Und der Schakal blieb zurück.
Er erreichte den Fluss und kniete an seinem Ufer nieder. Das Wasser war Tief und Dunkel und ihr Grab.
Es gab niemanden zur Verantwortung zu ziehen. Von Niemandem konnte er eine Erklärung verlangen oder gar Vergeltung. Aber auch keine Versöhnung, kein Vertrauen, keine Akzeptanz. Sowenig wie Protest, Auflehnung, Rebellion. Es gab Nichts.
Und dann hatte er eine Welt satt, die keine Hoffnung, keine Wunder zuließ, sondern nur endlosen Abschied, noch vor dem ersten ‚Hallo‘. All das Schöne durfte hier nur trügerische Illusion sein. Magie war ein billiger Trick auf seiner Bühne, wenn er seine Frau vor aller Augen verschwinden ließ und er hatte es satt, ein Lügner zu sein.
Da zog eine Krabbe langsam die Uferböschung entlang.
„Es gibt noch einen Weg, Zauberer.“, begann sie, „Du konntest nie Zeit mit ihr verbringen, aber die Ewigkeit gehört euch. Lass deine Tochter nicht allein hier in der Kälte und der Dunkelheit. Leg dich mit ihr zur Ruhe. Du siehst so müde aus und hast du nicht genug gesehen? Kann deine Wanderung hier nicht ein schönes Ende finden?“
Der Zauberer sah in die Dunkelheit einer Neumondnacht. Vor dem Licht war die Dunkelheit gewesen. Nein, Licht war eine Illusion, nur die Dunkelheit echt. Die Nacht war alles, ins Wasser zu steigen, fühlte sich an, wie einer lang verlorenen Heimat näher zu kommen. Er glaubte nicht mehr an das Gleichgewicht, er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Es wollte es zufrieden sein, wenn es dunkel blieb und Still wurde.
Aber auch das durfte nicht sein. Die Welt hatte sich nicht nur gegen ihn verschworen, auch gegen seine Frau. Unmöglich sie allein in der Dunkelheit zu lassen.
Er tauchte wieder auf, vertrieb die Krabbe, die ihm vom Ufer aus zugeguckt hatte und blieb erschöpft dort liegen. Starrte in diese lichtlose Nacht.
Der Mond war ein Blender! dachte er plötzlich.
Wieso war dieser taube Felsen überhaupt dort oben? Welchen Zweck hat es, dem Tag seine schönen und seine dunklen Stunden zu geben, welchen Sinn hat das Rotieren der Erde, das für den Winter, aber eben auch für den Sommer sorgt? Alles scheint so gerecht geordnet. All diese Gesetzte… Welchen Sinn haben sie, wenn sie uns übersehen, wenn wir nur die Nacht bekommen? Warum, ist er da oben und schickt uns das Licht der Sonne, dass wir nie erhaschen dürfen?
Als er sprach, war unklar zu wem. Vielleicht ahnte er, dass der Hund und der Schakal und auch die Krabbe noch in der Nähe waren und leise auf seine Entscheidung horchten, vielleicht dachte er auch nicht daran und ließ seine Stimme in einer seelenlosen Welt verhallen:
„Stell dir vor, der Mond würde nach Neumond nicht wieder erscheinen. Stell dir vor, all die Regelmäßigkeiten des Lebens, all das auf und ab, Nacht und Tag, Sommer und Winter, Leben und Tod, würden in Frage gestellt, so wie der Tod das Leben im Schoß meiner Frau in Frage stellt, immer und immer wieder? Stell dir vor, der Mond würde fort bleiben und die Nacht wäre wirklich schwarz. Stell dir vor, nur für einen einzigen Moment, wären die Gesetzte zu brechen, die uns auferlegt sind und wir wären, für diesen einen Augenblick, wirklich frei…“
Er ballte die Fäuste im feuchten Ufergras und wusste endlich, was er tun würde. Der Mond würde endlich sein Versprechen einlösen und er, der Zauberer, wäre kein Lügner mehr.
„Und dann?“, Maro starrte seine Mutter ungläubig an, die sich zurück lehnte, als wäre alles erzählt.
„Mehr weiß man nicht. Der Zauberer verschwand und die Tiere konnten ihm nicht folgen. Aber nach Neumond blieb der Mond verschwunden.“
Maro verzog das Gesicht über das unbefriedigende Ende.
„Du siehst“, setzte seine Mutter neu an, „dass der Mond nicht mehr zu sehen ist, ist nicht traurig. Es bedeutet, dass nichts unmöglich ist für uns Menschen, auch wenn die Welt manchmal voller Grenzen scheint. Wir überwinden sie.“
„Was hat der Zauberer mit dem Mond gemacht?“
Sie strich ihm über sein Aschblondes Haar.
„Das weiß nur er und vielleicht noch seine Frau. Vielleicht hat er ihn ja behalten, ihr zum Geschenk gemacht. Vielleicht kümmern sie sich um ihn anstelle eines eigenen Kindes?“
„Das wär ja eine komische Familie!“, lachte Maro.
„Ja, das wäre sie.“
Sie küsste ihm die Stirn und deckte ihn zu.
Als sie das Licht ausmachte, kam ihr Mann leise heran. Gemeinsam betrachteten sie den Jungen im Schlaf. Seine Haut war so weiß, dass sie im Dunkeln leicht zu schimmern schien. Ein Geheimnis, dass sie sicher zwischen sich verwahrten.
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