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seltsame, kleine Dinge...

Tag: Karo

Mädchen ohne Mond

Karo setzte ein schnörrkelreiches „Ende“ mittig unter ihren Text. Es war fast mehr gemalt, als geschrieben. Sie sah nach draußen in die dunkle Nacht, als könnte er gleich auftauchen.
Wenn man manchen „Experten“ im Fernsehen glauben wollte, dann war das ja auch möglich. Aber sie war nicht dumm. Natürlich konnte er nicht plötzlich auftauchen. Er war jetzt seit über 15 Jahren nicht mehr zu sehen. Karo kannte ihn nur von Fotos oder von Gedichten, von den Geschichten, in denen Ebbe und Flut vorkamen, sie kannte ihn von den Aufnahmen, wie Armstrong ihn betrat. Aber gesehen hatte sie ihn natürlich nie. Manchmal, wenn ihre Tante von der Schlaflosigkeit erzählte, unter der sie bei Vollmond litt, oder wenn in einem alten Film, sich jemand unter seinem Schein in ein Monster verwandelte, kam er ihr zu mysteriös vor, um echt zu sein.
In der Schule hatte man ihnen erklärt, warum man ihn jetzt nicht mehr sah, es war eine ganz logische und langweilige Erklärung und das ‚warum‘ war auch nicht entscheidend.
Sie war immer noch gut im Malen und hätte gerne die Strahlen des Mondes von mehr als einem Bild versucht einzufangen. Ihre Mutter meinte mal, dass ihrer Generation etwas fehlen würde, wenn man ihn am Himmel nicht sehen kann. Aber das war eine diffuse Idee, sie hätte nicht erklären können, was da konkret verloren ging.
Da hatte sie angefangen, berühmte Gemälde nachzumalen und als einziges Detail den Mond weg zu lassen. „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ lag in dieser Version auf ihrem Tisch. Und obwohl sie bei weitem nicht so gut war, wie Friedrich, so erkannte man es doch und auch den „Fehler“ darin.
Das war das seltsame: Niemand wollte Kunst sehen, die den Mond verschwunden zeigte. Von Gemälden bis hin zum Kino. Der Abschied des Mondes fand dort einfach nicht statt. Alle Welt wollte an ihn erinnert werden.
In einem seltsamen Moment der Sehnsucht nach diesem Phänomen, das ihr vorenthalten wurde, versuchte sie zu Papier zu bringen, wie es wäre, wenn es ihn nie gegeben hätte. Wenn er wirklich nur in Geschichten existieren würde und alle damit zufrieden wären. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es ihn geben sollte und das etwas falsch war, wenn man ihn nicht sehen konnte.
Auf einem neuen Blatt schrieb sie von einer Welt, in der der Mond nie verschwunden war und positionierte beide Extreme jeweils rechts und links um ihren Friedrich. Betrachtete das düstere, aber friedliche Bild.
Vielleicht war bei den beiden Männern gerade Neumond und sie sahen nur ins Tal hinunter.
Vielleicht erzählen sich die beiden Männer gerade eine Geschichte darüber, wie der Mond verschwand. Eine märchenhafte Fabel über einen Meisterdieb oder bösen Zauberer?
Sie schrieb ‚Es war einmal‘ auf eine leere Seite, aber dann wusste sie schon nicht mehr weiter und beschloss, sich lieber wieder auf das Malen zu konzentrieren.

Mädchen in Klassenraum

Eine ganz besondere Muse stellte einmal eine Aufgabe. Dies ist nicht die Erfüllung der Aufgabe, dies ist eine Idee, die aus der Idee zur Lösung der Aufgabe hervorging. Wie wenn ein Stein ins Wasser fällt. Was hier steht, ist eine der äußersten Wellen, nicht der Stein.
Im Übrigen: Titel zu finden ist bei Literatur immer schwierig, deshalb dachte ich mir, mache ich das mal so wie man es immer in Museen sieht und benenne es ganz unpoetisch nach dem was man sieht. Das ist nicht wirklich toll, wie gesagt, unpoetisch und auch nicht richtig genau, aber ich habe mal gehört, ein Titel soll verwirren, nicht ordnen.

Und ein Autor schreiben, nicht reden.


„Gut, dass sie kommen konnten, Frau Wolfgang.“
„Gerne. Sie wollten mit mir über Karos Kunstunterricht reden?“
„Ja, Frau Wolfgang. Ich möchte, dass sie sich hier diese Bilder ansehen.“
Es entstand eine kurze Stille. Karo saß am Rande des Tisches auf einem der Stühle, die mit einem grünen Punkt gekennzeichnet waren (nicht mehr für die Kleinen, aber auch nicht für die ganz großen an der Grundschule). Man ignorierte sie. Die beiden Erwachsenen beugten sich über ihre Bilder, sie konnte nicht sehen, welches davon sie betrachteten, aber sie beschlich ein Gefühl des Unrechts. Warum durfte die Lehrerin überhaupt ihre Bilder haben?
„Karo hat nun mal viel Fantasie…“
Karo mochte ihre Fantasie. Manche Erwachsenen sahen irgendein Problem damit, dass sie nicht verstand.
„Frau Wolfgang, sie behauptet vor anderen ihn gesehen zu haben.“
Das hatte sie. In einem Buch. Reicht das nicht, um ihn zu malen?
„Sie bekam zu Weihnachten Peterchens Mondfahrt. Ich denke, es hat ihr einfach sehr gefallen…“
„Die Aufgabe war es, Bilder zum bevorstehenden Sankt-Martins-Zug zu malen. Frau Wolfgang, ich befürchte, ihre Tochter glaubt wirklich, dass es nächsten Samstag auf unseren Straßen so aussehen könnte… Karo. Sag mir, was hast du hier gemalt? Was ist das weiße, da bei den Kindern.“
Die Lehrerin hielt ihr das Bild unter die Nase. Karo war sehr stolz darauf, das weiß so gut hinbekommen zu haben. Weiß war am schwersten auf blankem Papier, weil es ja kein richtiges Weiß sein konnte, ansonsten sieht man es ja nicht, statt dessen musste man eine andere Farbe nehmen, aber die so hell, dass alle an weiß dachten. Es umspielte die drei gemalten Kinder fast wie strahlen, als wären sie es, die leuchteten. So stellte sie es sich vor, wenn er da wäre.
„Mondstrahlen.“, sprach sie das faszinierende und fremde Wort aus und mit wachsendem Trotz: „Vom Mond. Der ist da.“
Ihren Finger stieß sie gegen das Papier oben in der Mitte. Die große, runde Scheibe mit einem Strahlenkranz wie bei der Sonne, aber eben in weiß statt gelb.
„Ach, Karo.“
Sie fand, sie hatte genug gesagt und schaltete auf Durchzug.
Laterne, Laterne, die Sonne und die Sterne…, begann sie im Kopf zu singen.
Am Abend zuhause nahm sie ihr Vater zur Seite. Er ging mit ihr in den Garten und zeigte auf den Himmel.
„Schatz, sieh doch, da ist kein Mond. Der Mond ist nur eine Geschichte. Die Menschen haben sich früher vorgestellt, dass es auch eine Nachtsonne gibt, weil sie Angst hatten im Dunkeln. Aber es gibt ihn in Wahrheit nicht. Und das ist doch nicht schlimm, du hast doch keine Angst im Dunkeln…“
„Was ist falsch daran, eine Geschichte zu sein?“
„Nichts, Liebling.“ Ihre Mutter strich ihr übers Haar, „Aber es gibt die echte Welt und es gibt Geschichten und du darfst beides nicht vermischen.“
Wenn ihre Mutter es sagte, war sie bereit es zu akzeptieren, ihr zuliebe. Das alles machte sie traurig, ohne dass sie verstand, woran es genau lag.

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