Geisterhaus

seltsame, kleine Dinge...

Tag: Geschichten

Die Porzellanfresserin

Man kann sie vom Fenster aus sehen zur Essenszeit. Eine dürre Frau im Regen, die Arme in ihren langen Mantel verkeilt. Sie sieht durch die Fenster, von ferne, sie kommt ihnen nicht zu nah. Sie starrt auf die Tische, voller Schüsseln und Teller und Tassen und Schalen. Man könnte sie für eine hungrige Obdachlose halten.

Woher sie stammt weiß niemand. Ich sah sie in den Niederlanden, nah am Meer, aber weit weg von den großen Städten und Zentren. Ich könnte mir vorstellen, dass sie den freien, vorhanglosen Blick mag, den sie in diesem Land in die Stuben hat, direkt in die Küchen und Esszimmer.

Ich hatte es wieder ganz vergessen. Es war nur eine Randnotiz, buchstäblich, denn ich schrieb die Geschichte auf, als ich sie hörte, dann wollte mir nicht der richtige Rahmen für diese interessante kleine Anekdote einfallen und so verwarf ich jeden weiteren Gedanken daran. Und die halbfertige Geschichte, deren erste Zeilen ihr gerade gelesen habt, ruhte als tote Schönheit sicher und ungestört auf meiner Festplatte und wartete auf die richtigen Umstände, die ihr Leben einhauchen würden. Ob diese Zeit gerade jetzt gekommen ist, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist die Randnotiz seit heute etwas länger. Aber beginnen wir von Anfang an.

Ich sah sie – wie gesagt – selbst. Fand sie im Winter eines neuen Jahres in den Niederlanden, die man von uns aus gesehen schnell erreichen kann, am Rande eines zum Hotel umgebauten Anwesens im Stile des 19. Jahrhundert. Es dauerte noch bis der Sommer die Touristen in Horden an die Küste treiben und auch dieses Hotel wach küssen würde. Jetzt lag das Anwesen verschlafen und melancholisch da. Der Wintergarten erinnerte an einen Glassarg. Wir befanden uns in einer Region, die beinahe eine Insel war, so eingeschlossen vom Meer und der Wind heulte an diesen rauen Tagen frei und eisig über das Land und riss an den Bäumen und Sträuchern, bevor es ihn wieder auf das Meer hinaus zog. Es war kühl in den Zimmern, egal was man tat und düster und schön. Mit spitzen Fingern klopfte der Regen unablässig gegen die Fenster und ein dunkles Grollen drang von draußen herein. Der Wintergarten war morgens der Frühstücksraum und man konnte den Blick über die weite Parklandschaft streifen lassen, die zu dieser Jahreszeit aber aus Bäumen bestand, die ihre skelettarme im Winde tanzen ließen und aus Gras in einem ungesunden, blassen grün, dass schwer vom Regen sich fast schon im Schlamm verkroch. Alles vor einer grauen Kulisse, angenehm zu beobachten mit einem warmen Kaffee in seinen Händen und dem Wissen, dass man den „tollen Tagen“ zuhause entkommen war.

In dieser Landschaft bemerkte ich sie, zwischen zwei Birken, zuerst dachte ich, sie wäre ein Spaziergänger, der das Wetter unterschätzt hätte, aber trotzdem nicht vom einmal gefassten Plan, den Garten zu erkunden, ablassen wollte. Sie hatte den Mantel fest an sich gedrückt und es war ja auch zu sehen, dass es draußen kalt sein musste. Ich beobachtete sie nicht näher und dachte auch nicht an sie. Da bemerkte meine Begleitung in diesen Tagen, wie schnell und dennoch dezent, hier die Tische aufgeräumt wurden, nachdem Gäste den Wintergarten verließen. Und tatsächlich konnte man beobachten, wie sehr schnell und nahezu lautlos jemand herein kam, das Geschirr auf ein Tablett verräumte und dann genauso wieder verschwand. Natürlich geht man davon aus, dass es sich um Personal handelt. Es war eine große, blasse Frau und nichts schien seltsam an ihr.

Das wiederholte sich während das Frühstück sich langsam verlief. Draußen war es grau und windig und niemand war mehr unterwegs. Als sich meine Blicke mit der, der Servicedame trafen, war ich mir fast sicher, dass ich sie eben noch draußen gesehen hatte, obwohl das ja nicht möglich war. Hätte sie eben noch weitab im Regen gestanden, zwischen den Birken und mit ihren großen Augen, wie hungrig, in den Wintergarten gestarrt, dann könnte sie ja jetzt nicht unangetastet von Wind und Wetter als Bedienung arbeiten.

Das alles ist letztendlich nicht seltsam und ich gebe  zu meiner Fantasie erlaubt zu haben sich mit dem Nordseewind durch die winterliche Landschaft treiben zu lassen. Ich habe mir ihre dürre Gestalt, ihre glasigen, fremden Augen und ihren lautlosen Gang etwas zu sehr zu Herzen kommen lassen und gerne Dinge gesehen, die garnicht zu sehen waren. Selbst wenn man bedenkt, dass sich später am Tage heraus stellte, dass jemand das komplette Porzellangeschirr des Hotels entwendet hatte, dann war sie immer noch eine gewöhnliche, wenn auch dreiste, Diebin.

Und auch, als wir an unserem letzten Tag hörten, dass das Geschirr gefunden wurde, im Garten zertrümmert an den überwucherten Steinbänken, dann war sie eben keine Diebin, sondern eine immer noch gewöhnliche, wenn auch dreiste, Vandalin.

Hätte unsere Fantasie diese Reise lang nicht selbst einige Reisen unternommen und wir im Wintergarten nicht an einem Abend von der seltsamen Feengestalt gehört, die man „de eter van de porselein“ nennt – wir übersetzten es mit „die Porzellanfresserin“ – hätte mich wohl nichts hiervon vor die Tastatur getrieben. Aber dann hörten wir dies, wie ich es schon andeutete, und es jetzt mitteile, Wort für Wort:

Man kann sie vom Fenster aus sehen, zur Essenszeit. Eine dürre Frau im Regen, die Arme in ihren langen Mantel verkeilt. Sie sieht durch die Fenster, von ferne, sie kommt ihnen nicht zu nah. Sie starrt auf die Tische, voller Schüsseln und Teller und Tassen und Schalen. Man könnte sie für eine hungrige Obdachlose halten.

Meistens bemerkt man sie nicht, aber kann man sie sehen und erkennt sie doch nicht, für das, was sie in Wahrheit ist, so wird man es bald bereuen. Denn ist man herzlos und will die Bettlerin verjagen, so bringt sie dem ganzen Haus Pech und am nächsten Tag ist vielleicht das komplette Geschirr zertrümmert. Aber will man etwas Gutes tun und lädt sie zu sich an den Tisch, so wird sie nicht essen und nicht trinken, aber mit der Zeit, wird man bemerken, dass immer weniger von dem guten Geschirr im Schrank ist und eines Tages, wird alles verschwunden sein. Manchmal wird danach, wie zum Dank, eine kleine, zierliche Porzellanpuppe im nun leeren Küchenschrank liegen und von da an, wird niemals wieder Geschirr im Hause kaputt gehen.

Was für eine seltsame Feengeschichte. Ich stellte mir die dürre Frau vor, wie sie Nachts im Wald hockte, umgeben von feinem, gestohlenen Porzellan, das vom fahlen Mondlicht in der Dunkelheit schimmerte, eine zierliche Untertasse zwischen ihnen Fingern die sie mit feinen, langen, spitzen Zähnen sorgfältig zernagte und zufrieden aß.

Merkwürdig schauerlich und gleichzeitig harmlos. Wir vermuteten Verwandtschaft mit der Legende der Zahnfee, oder dass diese seltsame Geschichte vielleicht von weit her kam und mit dem Porzellan selbst seinen Weg vor langer Zeit aus China fand.

Wie auch immer: Dies ereignete sich, wie gesagt, während bei uns der Karneval seine Spur der zwanghaften Fröhlichkeit durch die Innenstädte zog. Zurück in der Heimat ließ mich nichts mehr aufhorchen. Ich ging meinem Alltag nach, versuchte kurz Kaffee zu fasten, aber gab nach zwei Tagen heftigster Entzugskopfschmerzen auf. Vielleicht sah ich beim Spazieren oder Einkaufen irgendwann eine dünne, blonde Frau, deren Augen mir bekannt vorkamen auf der Straße. Vielleicht sah ich mal bei Nacht aus dem Fenster und sah jemand hochgewachsenen im Regen stehen, versuchend meine Küchenvorhänge mit dem Blick zu durchbohren. Vielleicht waren da auch nur die üblichen Heimkehrer, Spaziergänger, Nachbarn die ihre Hunde rausführten und Niemand seltsames erregte meine Aufmerksamkeit und sorgte für ein Déjà-vu. Ich bin mir nicht sicher. Ich war nicht mehr an der Nordsee und das fantasieren bleibt Zuhause auf der Strecke. Ganz davon abgesehen, dass meine Kaffeetassen mitnichten aus Porzellan sind. Wer hat so etwas schon noch im Haus?

Die ersten warmen Tage werden von den Nachbarn über mir und unter mir gerne für eine große Gartenparty genutzt. Ich hatte dieses Jahr keine Zeit, aber als ich später hörte, wie auch mancher Spaziergänger aus der Nachbarschaft eingeladen wurde, sich dazu zu gesellen und lange noch gewitzelt wurde, dass manche der fremden Besucher scheinbar nur zum Glotzen sich dazu setzten, aber auch nach mehrmaliger Aufforderung nichts aßen, da dachte ich an die Fastenzeit und das Manche sie nun mal ernster nahmen.

Das alles fiel mir nur heute wieder ein, als ich während der Vorbereitungen für ein Ostertreffen mit der Familie die Kiste mit dem guten Geschirr vom Speicher holen wollte und sie seltsam leicht war.

Ich sah den Aufkleber „Vorsicht: Porzellan“ und war im ersten Moment noch so rational mich zu fragen, ob feines Porzellan vielleicht einfach noch deutlich leichter ist, als ich es in Erinnerung habe. Aber das ist es nun einmal nicht.

Der Boden war bedeckt mit feinem, weißem Staub und darauf ruhte eine hübsche, zierliche Porzellanpuppe.

Ich habe mich tausendmal im Kreise der Familie dafür entschuldigt, dass das komplette gute Geschirr beim Umzug offensichtlich zu Bruch ging und wir so leider mein normales nutzen müssen – Gott sei Dank hatte ich die Kiste nicht geerbt! Drei Mal habe ich im Laufe des Kaffee und Kuchens verstohlen meine Tasse wie aus Versehen herunter geworfen, einmal sogar aus dem Fenster und sieht man davon ab, dass man mich jetzt für herausragend ungeschickt hält, blieb alles heil.

Die Puppe ist nicht mehr auf dem Dachboden, sie ist im Küchenschrank, wo sie scheinbar ihren Platz haben soll. Vielleicht ist das Alles ein Scherz meines Begleiters und der Rest Zufall und Einbildung.

Aber meine Fantasie reitet auf dem Nordseewind durch diesen Tag und ich zwing sie auch diese Nacht nicht heim.

Nebel am Eisernen Steg 2/2

Es gibt wenig Farbe in diesen Stunden, aber es gibt sie wenigstens. Das Gras ist grün, ich sehe es, wenn ich darauf gehe, aber es vergeht so schnell und vermischt sich mit dem farblosen Nebel und es ist schwer, die Erinnerung daran aufrecht zu halten. Waren die Enten rostrot, oder war das nur im Bild?

Bei der Blutbuche bleibe ich beinahe zu lange. Ich zeichne ihr Bild auf den Mülleimer an der Bank davor und versuche mir vorzustellen, wie sie bei Wind aussehen würde, versuche, die Dynamik ins Bild zu bringen, gerade so, wie ich einen Sturm in Erinnerung habe. Das vermisse ich so… Luft, die über mein Gesicht streicht, über meine Arme, die kalt in meinen Lungen ist, warm und stickig, oder nach Blüten duftet, nach der nassen Straße, nach Menschenmassen. Atmen! Atmen wäre so herrlich!

Ich kann es mir nicht gut genug vorstellen, irgendetwas fehlt in meinem Bild, ich weiß, es ist noch nicht richtig, aber ich muss weiter.

Ich gehe halb getrieben, halb gezogen, pflücke etwas Gras von dem schmalen Grünstreifen und schüttele den Tau davon ab. Wie schön die Welt ist, habe ich früher nicht wahrhaben wollen und jetzt gibt es nicht genügend Flächen, um alle Bilder aufzunehmen, die ich malen möchte. Malen muss?

Und dann erreiche ich die Fußgängerbrücke.

Hier ist noch kein Nebel, ich könnte ans andere Ufer laufen, das im Dunkeln liegt und ich renne auch, aber nur bis zur Hälfte, dann stoppe ich, beuge mich nach vorne und stütze meine Hände gegen die Oberschenkel, als wäre ich außer Atem – bin ich irgendwie ja auch… Ich sehe zur anderen Seite. Steht da jemand und schaut zu mir herüber?

Ich wende mich ab, weiter möchte ich nicht. Ich bin noch nie hinüber gelaufen. Es ist vielleicht albern: Ich glaube, von dort führt kein Weg zurück und ich bin mir nicht sicher, ob es mir dort gefallen würde.

Stattdessen trete ich an das Geländer, an dem gewissermaßen meine inspirierte Phase ihren Anfang nahm. Ich schau hinunter und hör das Wasser locken. Immer noch, nach dem ich ihm so viel gegeben habe… Ich muss bald zurück.

War es falsch damals? Natürlich hätte ich dem Wasser nicht nachgeben sollen. Ich hätte weghören können, mir Hilfe suchen. Einfach weiter atmen.

Das leichteste von der Welt…

Die Brückenträger rechts und links von mir zeugen von den Spuren, die ich bei jedem Spaziergang hier hinterlasse. Sie machen sie weg, aber ich mal einfach ein neues Bild. Immer tiefer dringt der Rost. Nimmt mich jemand wahr? Sieht jemand die kitschigen Zeichnungen des Mainufers, oder die dramatischeren eines Schattens, der sich in die Fluten stürzt? Oder reiße ich irgendwann Löcher in den Träger und sie werden es Materialermüdung nennen?

Der Nebel rückt näher, er hat mich an meinem Platz am Geländer längst eingeschlossen. Dann verschwindet meine Aussicht, kurz nachdem ich mit meinen Fingern die letzten Linien gezogen habe. Ich vermisse jetzt schon die Farben. Jetzt sind nur noch ich und mein Bild auf dem Geländer da. Es zeigt das Letzte, was ich sah. Ob den letzten Ausblick gerade eben, oder von damals kann ich jetzt schon nicht mehr sagen. Was mache ich hier? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich hier, weil ich es nicht weiß? Ist es Lehre? Belohnung? Bestrafung?

Ich weiß es nicht, ich weiß nichts mehr. Das Grau verwischt alles und von ihm verschlungen zu werden ist wie früher schlafen war, oder sich sterben ganz kurz anfühlte. Es zieht mich zurück ins Wasser und die Welt zerfließt mit dem Aufstieg der Sonne. Die Stadt erwacht und ich falle in einen Dämmerschlaf, warte auf das nächste Mal. Wenn die Welt wieder stillsteht und ich im Nebel wandern kann.

Nebel am Eisernen Steg 1/2

Das Wasser des Mains fließt so gemächlich, dass es fast zu stehen scheint. Es gleitet vorbei ohne großen Sinn für seine hektische Umgebung. Es hat etwas Hypnotisches in seinem zähen Lauf und als ich zum ersten Mal von der Brüstung aus auf es hinunter starrte, schien es mir, als würde es meinen Blick erwidern. Als rief es nach mir.

Die Stadt an seinem Ufer ist anders. Sie hat nie etwas von mir erwartet. Sie ist auch nie ruhig und still, aber es gibt da diese bestimmten, seltenen Momente, wenn mit der Dämmerung der Nebel aus dem Wasser kriecht und seine Wanderung über das Ufer beginnt. Es ist, als würde der Rest der Welt kurz stillstehen und der Nebel zieht wie durch ein Bild.

Es treibt mich mit auf diesen Spaziergang, ich kann gar nicht anders. Die Luft ist kalt und klamm, es ist fast, wie noch im Wasser zu sein, nur das die Welt hier steht und nicht zerfließt wie dort.

Ich sehe die Nilenten neben einer Baustelle schlafen. Ein einzelner Schwan unter ihnen. Im Hintergrund eine verwunschene Insel. Sie ragt kaum aus dem Nebel hervor. Meine Füße stoßen gegen ein umgekipptes Baustellenschild. Es liegt verkehrt herum und hat eine silberne Rückseite. Den Blick nicht von der Szenerie wendend gehe ich in die Hocke. Ich habe Angst, dass die Enten, der Schwan und die Insel einfach verschwinden könnten, wenn ich den Blick abwende. Aber ich muss, sonst kann ich es nicht tun! Ich muss kurz auf das Schild sehen, sonst wird es nicht gut…

Ich habe früher nicht gemalt. Ich weiß nicht warum, es ist mir einfach nie in den Sinn gekommen. Das mache ich erst, seit alles so ist, wie es jetzt ist und ich nichts berühren kann, ohne es unter meinen Fingern zu verändern. Zuerst habe ich es für einen Fluch gehalten, ein Mahl der Vergänglichkeit, das ich überall hinterlasse, als Strafe für das, was ich mir angetan habe. Ich würde nicht sagen, dass ich heute einen Sinn darin gefunden habe, aber ich mache damit etwas. Etwas… Schönes…

Meine klammen Finger hinterlassen kleine Rostblumen auf der silbernen Oberfläche. Ich habe nicht viel Zeit über das Motiv nachzudenken, jeder Zug muss sitzen. Ich skizziere das Ufer, die Vögel, die Äste, die gespenstisch aus dem Grau des Nebels ragen, wie jetzt der Rost aus dem Grau des Schildes.

Der Nebel zieht enger, die Szenerie verschwindet und er treibt mich weiter, aber ich sehe noch einmal herunter auf mein Bild aus Rost und es ist gut, ich hab einfangen können, was ich sehen durfte. Es verschwindet im Grau. Wenn ich nicht weiter gehe, dann endet mein Spaziergang hier. Man muss mit dem Nebel Schritt halten.

Der Mond – Ein Märchen

In einem weit entfernten Land, wanderte einst ein Zauberer. Sein Herz war schwarz von Trauer, in seinem Arm lag in einem sorgfältigen Bündel seine tote Tochter, die niemals einen Blick auf diese Welt hatte werfen können. Es war genauso Nacht gewesen, wie bei jedem anderen Kind davor. Von der Dunkelheit des Mutterleibs, über den schlecht beleuchteten Planwagen unter die feuchte Erde. Kein Licht fiel je auf seine Kinder, nicht einmal die Reflexion des Mondes. Es waren winzige, farblose Leiber, denen er in der Dunkelheit ‚Adieu‘ sagte, so lebendig wie die Felsen um ihn herum und dieses Mal fühlte er wie etwas in ihm brach, wie etwas vor Belastung, vor Müdigkeit und andauernder Qual nachgab.
Da trat ein Wolfshund aus dem Dickicht, ihn zu begleiten.
„Fürchte dich nicht und hab Vertrauen. Was dir auch immer hier widerfährt, es hat doch Sinn. Kannst du ihn auch im Moment nicht fassen, so gibt es doch jemanden, der deine Schritte lenkt, der etwas mit dir vorhat. Nichts geschieht Grundlos.“
„Ein solches Vertrauen in seinen Herrn steht dem Hund. Sie vertrauen ihm noch, während sie erschlagen werden. Aber was für einen Herrn haben die Menschen?“, erwiderte der Zauberer.
Es konnte nicht richtig sein, dass ein Kind starb, ohne einen einzigen Blick auf diese Welt, ein einziges Mal Luft geschmeckt zu haben. Früher hatte er an Kontraste geglaubt, dass die Realität zu gleichen Teilen aus Licht und Schatten gebildet sei. Leben und Tod, so hieß es, müssen die Welt gemeinsam gestalten. Leiden gebärt Glück und umgekehrt und er war immer bereit gewesen, klaglos all die schlechten Zeiten mit seiner Frau an seiner Seite zu ertragen, denn sie sagten, auf eine dunkle Nacht, folgt auch wieder ein Tag und auf einen Tag, muss die Nacht folgen und als Zeichen, dass sie immer auch wieder weichen würde, galt der Mond, denn sein Licht kommt in Wahrheit von der Sonne. Aber aus einem lange gehegten Zweifel wurde jetzt die Gewissheit, dass dieses Gleichgewicht eine Lüge war. Ein Betrug an ihm und seiner geliebten Frau, deren Nacht ewig war.
Er jagte den Hund von sich.
Da trat ein Schakal aus dem Dickicht, ihn zu begleiten.
„Es stimmt, du bist niemandes Knecht. Der Mensch schafft selbst die Regeln, nach denen es ihm zu leben beliebt. Und du bist ein Magier. Ihr Tod muss keine Bedeutung haben!“
„Es ist wahr.“, sprach der Zauberer, „Ich könnte ihr wieder Leben einhauchen. Aber es ist nicht erlaubt.“
„Was scheren dich Verbote einer Welt, die Falsch ist?“
„Nichts, Schakal.“, sprach der Zauberer, „Aber es wäre nicht zum Wohl meiner Tochter. Es gibt keinen Weg sie zurück zu holen, jedenfalls nicht ganz. Sie wäre nur ein Schatten. Was wäre ich für ein Vater? Geh!“
Und der Schakal blieb zurück.
Er erreichte den Fluss und kniete an seinem Ufer nieder. Das Wasser war Tief und Dunkel und ihr Grab.
Es gab niemanden zur Verantwortung zu ziehen. Von Niemandem konnte er eine Erklärung verlangen oder gar Vergeltung. Aber auch keine Versöhnung, kein Vertrauen, keine Akzeptanz. Sowenig wie Protest, Auflehnung, Rebellion. Es gab Nichts.
Und dann hatte er eine Welt satt, die keine Hoffnung, keine Wunder zuließ, sondern nur endlosen Abschied, noch vor dem ersten ‚Hallo‘. All das Schöne durfte hier nur trügerische Illusion sein. Magie war ein billiger Trick auf seiner Bühne, wenn er seine Frau vor aller Augen verschwinden ließ und er hatte es satt, ein Lügner zu sein.
Da zog eine Krabbe langsam die Uferböschung entlang.
„Es gibt noch einen Weg, Zauberer.“, begann sie, „Du konntest nie Zeit mit ihr verbringen, aber die Ewigkeit gehört euch. Lass deine Tochter nicht allein hier in der Kälte und der Dunkelheit. Leg dich mit ihr zur Ruhe. Du siehst so müde aus und hast du nicht genug gesehen? Kann deine Wanderung hier nicht ein schönes Ende finden?“
Der Zauberer sah in die Dunkelheit einer Neumondnacht. Vor dem Licht war die Dunkelheit gewesen. Nein, Licht war eine Illusion, nur die Dunkelheit echt. Die Nacht war alles, ins Wasser zu steigen, fühlte sich an, wie einer lang verlorenen Heimat näher zu kommen. Er glaubte nicht mehr an das Gleichgewicht, er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Es wollte es zufrieden sein, wenn es dunkel blieb und Still wurde.
Aber auch das durfte nicht sein. Die Welt hatte sich nicht nur gegen ihn verschworen, auch gegen seine Frau. Unmöglich sie allein in der Dunkelheit zu lassen.
Er tauchte wieder auf, vertrieb die Krabbe, die ihm vom Ufer aus zugeguckt hatte und blieb erschöpft dort liegen. Starrte in diese lichtlose Nacht.
Der Mond war ein Blender! dachte er plötzlich.
Wieso war dieser taube Felsen überhaupt dort oben? Welchen Zweck hat es, dem Tag seine schönen und seine dunklen Stunden zu geben, welchen Sinn hat das Rotieren der Erde, das für den Winter, aber eben auch für den Sommer sorgt? Alles scheint so gerecht geordnet. All diese Gesetzte… Welchen Sinn haben sie, wenn sie uns übersehen, wenn wir nur die Nacht bekommen? Warum, ist er da oben und schickt uns das Licht der Sonne, dass wir nie erhaschen dürfen?
Als er sprach, war unklar zu wem. Vielleicht ahnte er, dass der Hund und der Schakal und auch die Krabbe noch in der Nähe waren und leise auf seine Entscheidung horchten, vielleicht dachte er auch nicht daran und ließ seine Stimme in einer seelenlosen Welt verhallen:
„Stell dir vor, der Mond würde nach Neumond nicht wieder erscheinen. Stell dir vor, all die Regelmäßigkeiten des Lebens, all das auf und ab, Nacht und Tag, Sommer und Winter, Leben und Tod, würden in Frage gestellt, so wie der Tod das Leben im Schoß meiner Frau in Frage stellt, immer und immer wieder? Stell dir vor, der Mond würde fort bleiben und die Nacht wäre wirklich schwarz. Stell dir vor, nur für einen einzigen Moment, wären die Gesetzte zu brechen, die uns auferlegt sind und wir wären, für diesen einen Augenblick, wirklich frei…“
Er ballte die Fäuste im feuchten Ufergras und wusste endlich, was er tun würde. Der Mond würde endlich sein Versprechen einlösen und er, der Zauberer, wäre kein Lügner mehr.

„Und dann?“, Maro starrte seine Mutter ungläubig an, die sich zurück lehnte, als wäre alles erzählt.
„Mehr weiß man nicht. Der Zauberer verschwand und die Tiere konnten ihm nicht folgen. Aber nach Neumond blieb der Mond verschwunden.“
Maro verzog das Gesicht über das unbefriedigende Ende.
„Du siehst“, setzte seine Mutter neu an, „dass der Mond nicht mehr zu sehen ist, ist nicht traurig. Es bedeutet, dass nichts unmöglich ist für uns Menschen, auch wenn die Welt manchmal voller Grenzen scheint. Wir überwinden sie.“
„Was hat der Zauberer mit dem Mond gemacht?“
Sie strich ihm über sein Aschblondes Haar.
„Das weiß nur er und vielleicht noch seine Frau. Vielleicht hat er ihn ja behalten, ihr zum Geschenk gemacht. Vielleicht kümmern sie sich um ihn anstelle eines eigenen Kindes?“
„Das wär ja eine komische Familie!“, lachte Maro.
„Ja, das wäre sie.“
Sie küsste ihm die Stirn und deckte ihn zu.
Als sie das Licht ausmachte, kam ihr Mann leise heran. Gemeinsam betrachteten sie den Jungen im Schlaf. Seine Haut war so weiß, dass sie im Dunkeln leicht zu schimmern schien. Ein Geheimnis, dass sie sicher zwischen sich verwahrten.

Mädchen ohne Mond

Karo setzte ein schnörrkelreiches „Ende“ mittig unter ihren Text. Es war fast mehr gemalt, als geschrieben. Sie sah nach draußen in die dunkle Nacht, als könnte er gleich auftauchen.
Wenn man manchen „Experten“ im Fernsehen glauben wollte, dann war das ja auch möglich. Aber sie war nicht dumm. Natürlich konnte er nicht plötzlich auftauchen. Er war jetzt seit über 15 Jahren nicht mehr zu sehen. Karo kannte ihn nur von Fotos oder von Gedichten, von den Geschichten, in denen Ebbe und Flut vorkamen, sie kannte ihn von den Aufnahmen, wie Armstrong ihn betrat. Aber gesehen hatte sie ihn natürlich nie. Manchmal, wenn ihre Tante von der Schlaflosigkeit erzählte, unter der sie bei Vollmond litt, oder wenn in einem alten Film, sich jemand unter seinem Schein in ein Monster verwandelte, kam er ihr zu mysteriös vor, um echt zu sein.
In der Schule hatte man ihnen erklärt, warum man ihn jetzt nicht mehr sah, es war eine ganz logische und langweilige Erklärung und das ‚warum‘ war auch nicht entscheidend.
Sie war immer noch gut im Malen und hätte gerne die Strahlen des Mondes von mehr als einem Bild versucht einzufangen. Ihre Mutter meinte mal, dass ihrer Generation etwas fehlen würde, wenn man ihn am Himmel nicht sehen kann. Aber das war eine diffuse Idee, sie hätte nicht erklären können, was da konkret verloren ging.
Da hatte sie angefangen, berühmte Gemälde nachzumalen und als einziges Detail den Mond weg zu lassen. „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ lag in dieser Version auf ihrem Tisch. Und obwohl sie bei weitem nicht so gut war, wie Friedrich, so erkannte man es doch und auch den „Fehler“ darin.
Das war das seltsame: Niemand wollte Kunst sehen, die den Mond verschwunden zeigte. Von Gemälden bis hin zum Kino. Der Abschied des Mondes fand dort einfach nicht statt. Alle Welt wollte an ihn erinnert werden.
In einem seltsamen Moment der Sehnsucht nach diesem Phänomen, das ihr vorenthalten wurde, versuchte sie zu Papier zu bringen, wie es wäre, wenn es ihn nie gegeben hätte. Wenn er wirklich nur in Geschichten existieren würde und alle damit zufrieden wären. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es ihn geben sollte und das etwas falsch war, wenn man ihn nicht sehen konnte.
Auf einem neuen Blatt schrieb sie von einer Welt, in der der Mond nie verschwunden war und positionierte beide Extreme jeweils rechts und links um ihren Friedrich. Betrachtete das düstere, aber friedliche Bild.
Vielleicht war bei den beiden Männern gerade Neumond und sie sahen nur ins Tal hinunter.
Vielleicht erzählen sich die beiden Männer gerade eine Geschichte darüber, wie der Mond verschwand. Eine märchenhafte Fabel über einen Meisterdieb oder bösen Zauberer?
Sie schrieb ‚Es war einmal‘ auf eine leere Seite, aber dann wusste sie schon nicht mehr weiter und beschloss, sich lieber wieder auf das Malen zu konzentrieren.

Mädchen in Klassenraum

Eine ganz besondere Muse stellte einmal eine Aufgabe. Dies ist nicht die Erfüllung der Aufgabe, dies ist eine Idee, die aus der Idee zur Lösung der Aufgabe hervorging. Wie wenn ein Stein ins Wasser fällt. Was hier steht, ist eine der äußersten Wellen, nicht der Stein.
Im Übrigen: Titel zu finden ist bei Literatur immer schwierig, deshalb dachte ich mir, mache ich das mal so wie man es immer in Museen sieht und benenne es ganz unpoetisch nach dem was man sieht. Das ist nicht wirklich toll, wie gesagt, unpoetisch und auch nicht richtig genau, aber ich habe mal gehört, ein Titel soll verwirren, nicht ordnen.

Und ein Autor schreiben, nicht reden.


„Gut, dass sie kommen konnten, Frau Wolfgang.“
„Gerne. Sie wollten mit mir über Karos Kunstunterricht reden?“
„Ja, Frau Wolfgang. Ich möchte, dass sie sich hier diese Bilder ansehen.“
Es entstand eine kurze Stille. Karo saß am Rande des Tisches auf einem der Stühle, die mit einem grünen Punkt gekennzeichnet waren (nicht mehr für die Kleinen, aber auch nicht für die ganz großen an der Grundschule). Man ignorierte sie. Die beiden Erwachsenen beugten sich über ihre Bilder, sie konnte nicht sehen, welches davon sie betrachteten, aber sie beschlich ein Gefühl des Unrechts. Warum durfte die Lehrerin überhaupt ihre Bilder haben?
„Karo hat nun mal viel Fantasie…“
Karo mochte ihre Fantasie. Manche Erwachsenen sahen irgendein Problem damit, dass sie nicht verstand.
„Frau Wolfgang, sie behauptet vor anderen ihn gesehen zu haben.“
Das hatte sie. In einem Buch. Reicht das nicht, um ihn zu malen?
„Sie bekam zu Weihnachten Peterchens Mondfahrt. Ich denke, es hat ihr einfach sehr gefallen…“
„Die Aufgabe war es, Bilder zum bevorstehenden Sankt-Martins-Zug zu malen. Frau Wolfgang, ich befürchte, ihre Tochter glaubt wirklich, dass es nächsten Samstag auf unseren Straßen so aussehen könnte… Karo. Sag mir, was hast du hier gemalt? Was ist das weiße, da bei den Kindern.“
Die Lehrerin hielt ihr das Bild unter die Nase. Karo war sehr stolz darauf, das weiß so gut hinbekommen zu haben. Weiß war am schwersten auf blankem Papier, weil es ja kein richtiges Weiß sein konnte, ansonsten sieht man es ja nicht, statt dessen musste man eine andere Farbe nehmen, aber die so hell, dass alle an weiß dachten. Es umspielte die drei gemalten Kinder fast wie strahlen, als wären sie es, die leuchteten. So stellte sie es sich vor, wenn er da wäre.
„Mondstrahlen.“, sprach sie das faszinierende und fremde Wort aus und mit wachsendem Trotz: „Vom Mond. Der ist da.“
Ihren Finger stieß sie gegen das Papier oben in der Mitte. Die große, runde Scheibe mit einem Strahlenkranz wie bei der Sonne, aber eben in weiß statt gelb.
„Ach, Karo.“
Sie fand, sie hatte genug gesagt und schaltete auf Durchzug.
Laterne, Laterne, die Sonne und die Sterne…, begann sie im Kopf zu singen.
Am Abend zuhause nahm sie ihr Vater zur Seite. Er ging mit ihr in den Garten und zeigte auf den Himmel.
„Schatz, sieh doch, da ist kein Mond. Der Mond ist nur eine Geschichte. Die Menschen haben sich früher vorgestellt, dass es auch eine Nachtsonne gibt, weil sie Angst hatten im Dunkeln. Aber es gibt ihn in Wahrheit nicht. Und das ist doch nicht schlimm, du hast doch keine Angst im Dunkeln…“
„Was ist falsch daran, eine Geschichte zu sein?“
„Nichts, Liebling.“ Ihre Mutter strich ihr übers Haar, „Aber es gibt die echte Welt und es gibt Geschichten und du darfst beides nicht vermischen.“
Wenn ihre Mutter es sagte, war sie bereit es zu akzeptieren, ihr zuliebe. Das alles machte sie traurig, ohne dass sie verstand, woran es genau lag.

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